Weg vom Boden, ab in die Luft

Irak: Wie geht der Krieg im Irak weiter?

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Auch die noch laufende Diskussion über den Einsatz von Phosphor im Irakkrieg hat nicht viel daran geändert: Man erfährt nur sehr wenig über die militärischen Aktionen, die vom Himmel über dem Irak aus durchgeführt werden. Diese Seite des Krieges wird in der Irak-Berichterstattung so gut wie nie erwähnt.

Es gebe zwar eingettete Reporter, die bei Aktionen von Bodentruppen dabei sind, aber keine Journalisten, die Lufteinsätze begleiten, monierte Tom Engelhardt vor Jahresfrist in einem lesenswerten Beitrag über den Luftkrieg im Irak: Icarus (Armed with Vipers) Over Iraq. Vor einem Jahr tobte die "entscheidende Schlacht" in Falludscha, der Abwurf von schweren Bomben sorgte damals für Schlagzeilen und Diskussionen. Für kurze Zeit bekam die Öffentlichkeit Einblicke in den Luftkrieg:

Die militärische Führung in Bagdad und Washington versorgt die Presse - anders als dies in Vietnam routinemäßig der Fall war - nicht mit einem täglichen Bericht über die Einsätze, welche die Air Force, die Navy oder Marine Einheiten fliegen, was sie für Bomben abwerfen und welche Bombenlast. Einblick in das Ausmaß der Bombenabwürfe über dem Irak bot das Marine Corps während des Höhepunktes der Belagerung von Falludschah im Herbst 2004...Die Pressemitteilung besagte, dass seit Beginn des Krieges allein der 3rd Marine Airkraft Wing mehr als 500.000 Tonnen Ladung abgeworfen hatte. Diese Zahl würde wahrscheinlich am Ende dieser militärischen Operation noch sehr viel größer sein, gab damals Major Mike Sexton bekannt.

Danach wurde es wieder still. Hin und wieder wurden abgeschossene Hubschrauber gemeldet, aufmerksame Nachrichtenleser mögen die ein oder andere Meldung über deren Einsätze bei größeren Operationen verfolgt haben, z.B in Tel Afar, wo die Ziele nach Informationen von Juan Cole bereits von Irakern, hauptsächlich Kurden, ausgesucht wurden. In der Hauptsache aber blieb die Kriegs-Berichterstattung am Boden. Erst mit den jüngsten Berichten zum Einsatz von Phosphor schaute man wieder weiter nach oben (vgl. Doppelte Moral).

Das könnte sich nun ändern. Wie der bekannte amerikanische Enthüllungsjournalist, Seymour M. Hersh, von dem das obige Zitat stammt, herausgefunden hat, wird in der amerikanischen Führung über einen allmählichen Rückzug der Bodentruppen aus dem Irak diskutiert. Das Schwergewicht der militärischen Einsätze würde demzufolge künftig bei der Luftwaffe liegen. Das große Problem ist: Wer bestimmt die Ziele für die Angriffe: Iraker oder amerikanische Spezialtruppen?

Die amerikanische Regierung hält nachwie vor an ihrer zentralen Bedingung für den Abzug der Truppen aus dem Irak fest: Erst wenn die Iraker aus eigener Kraft für die Sicherheit im Lande sorgen können, würden die amerikanischen Truppen abgezogen. "As Iraqis stand up, we stand down" heißt die griffige Formel dazu, von Präsident Bush vor wenigen Tagen noch einmal wiederholt. Es gibt, so die Information von Hersh, keinen Zweifel daran, dass Präsident Bush an dieser Bedingung festhält, zumal er, wie der Journalist an mehreren Stellen seines Berichtes hinweist, von seiner "religiösen Mission" im Irak erfüllt sei.

Doch würden zur Zeit im Weißen Haus und im Pentagon mehrere Ausstiegs-Strategien begutachtet. Die ambitionierteste unter ihnen würde einen Abzug von etwa 70.000 Soldaten bis zum Sommer 2008 vorsehen, gesetzt den Fall natürlich, dass die neu gewählte irakische Regierung dem Widerstand Herr wird. Alle Abzugspläne, soweit sie den Informanten von Hersh bekannt sind, fehlen allerdings detaillierte Zeitpläne, allesamt seien sie "condition-based" und "event-driven", heißt es. Als gemeinsames Schlüsselelement der zeitlich unbestimmten Ausstiegsstrategien sei auszumachen, dass die abziehenden Truppen militärisch durch "Airpower" ersetzen wolle. Mit schnellen, tödlichen Luftschlägen könnte man, so die Meinung militärischer Experten, die Kampfkraft selbst der schlechtesten irakischen Einheit dramatisch verbessern.

Unbehagliche Gefühle bei Kommandeuren der US-Luftwaffe

Zwar würden so die Zahlen von amerikanischen Gefallenen sinken, aber die Zahl der Iraker, die getötet werden, steigen, friedlicher würde der Irak damit nicht, im Gegenteil, das Gewaltniveau könnte steigen, fürchten andere Fachleute. Vieles hänge davon ab, wer die Bombenziele bestimme.

Allerdings fühlen sich laut Hersh die Kommadeure der US-Luftwaffe äußerst unbehaglich bei dem Gedanken, dass Iraker die Ziele aussuchen würden, da damit die Möglichkeit verbunden sei, dass diese Luftangriffe ordern würden, um eigene, interne Rechnungen zu begleichen. Selbst die Hypothese, dass Iraker im Dienste der al-Qaida, des Widerstands oder Irans als Zielgeber ("targeteer") fungieren könnten, wird nicht ausgeschlossen, da man davon ausgeht, dass Teile der irakischen Armee von "Aufständischen" infiltriert sind.

Der Luftkrieg würde sehr häßlich werden, wenn die Zielbestimmung bei den Irakern liege, so Robert Pape, der vor einiger Zeit mit einer Studie über Selbstmordattentäter auf sich aufmerksam gemacht hat (vgl. Ausweitung der Kampfzone), von Hersh aber als Fachmann für American Airpower zitiert wird.

Vor allem wenn die Iraker so vorgehen, wie es die US-Armee und Marines vorgeführt haben: auf "Search and Destroy"-Einsätzen durch sunnitische Hochburgen pflügen. Wenn wir die Iraker dazu ermutigen könnten, ihre eigenen Gebiete sauber zu halten und zu kontrollieren und die Luftwaffe dazu benutzen, die Aufständischen davon abzuhalten, in bereinigte Gebiete vorzudringen, dann könnte dies nützlich sein. Das Risiko besteht aber darin, dass wir die Iraker dazu ermutigen "Search and Destroy"-Einsätze durchzuführen und sie weniger umsichtig sein könnten, was den Einsatz von Luftwaffen anbelangt. Die Gewalt würde dann eskalieren, mehr Zivilisten getötet und dem Widerstand damit noch mehr Leute zugeführt.

Die militärische Führung der Amerikaner (die sich bislang nicht gerade mit "Umsicht" bei Bombeneinsätzen hervorgetan haben) solchen Befürchtungen mit der Bildung von gemischten Truppen aus Amerikanern und Irakern, so genannten "Transition Teams", begegnen. Es gebe Pläne, so ein Informat, der als Berater für das Pentagon arbeitete, wonach man über zweihundert Mitglieder der Special Forces in irakische Einheiten integrieren würde. In der Praxis aber würden es die Special-Ops-Soldaten aber über kurz oder lang den Irakern überlassen, die Bombenziele zu bestimmen.

Der Einsatz von Luftwaffen für defensive Operationen könnte nützlich sein, kommentiert Juan Cole den Hersh-Bericht und warnt davor, dass die amerikanischen Luftwaffen auf keinen Fall ein "Spielzeug" für den SCIRI-Führer Abdul Asis al-Hakim werden dürfen. Al-Hakim habe alle Chancen, bei der nächsten Wahl als mächtigster Politiker im Irak hervorzugehen. Die Hoffnungen der Amerikaner und Briten ruhen laut dem Hersh-Bericht auf Ijad Allawi. Der hatte am Sonntag verlautbart, dass die Menschenrechtssituation im Irak gegenwärtig so schlecht sei wie unter Saddam Hussein. Dafür machte er vor allem seine schiitischen Brüder, deren Folterpraxis in Gefängnissen und Todesschwadronen verantwortlich.