Wehrhafte Demokratie: Ungleichheit – eine unterschätzte Bedrohung

Soziale Schere

Das Vermögen weniger wächst, der Einfluss der ärmeren Bevölkerungsschichten schwindet. Über das Risiko der politischen Entfremdung. Welchen Staat wollen wir?

Regelmäßig wird gewarnt, die Demokratie sei in Gefahr und müsse beschützt werden und eine wehrhafte Demokratie sein. Mal wird auf Feinde im Ausland verwiesen, insbesondere Russland.

Mal wird ein Schutz gegen den Feind im Innern verlangt und Maßnahmen eingeleitet, wie etwa durch den Verfassungsschutz, der den Tatbestand der "Delegitimierung des Staates" definiert oder durch Innenministerin Nancy Faeser, die ankündigt: "Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen".

Nicht zuletzt vor möglichen Wahlerfolgen der AfD, über deren Verbot diskutiert wird, sind die aktuellen Handlungen von Staat und Regierung einzuordnen, die dem Schutz der Demokratie dienen sollen, aber von Kritikern als Gefahr für die Meinungsfreiheit und als möglicher Türöffner zu einem Überwachungsstaat gesehen werden.

Demokratie und Verteilungsfrage

Bei der ganzen Debatte wird erstaunlicherweise eine ganz zentrale Gefahr für Demokratie übersehen, obwohl sie seit langem bekannt ist. Bereits der griechische Geschichtsschreiber Thukydides wusste: "Es bedarf des demokratischen Regiments, damit die Armen eine Zuflucht und die Reichen einen Zügel haben".

Das zentrale Gleichheitsversprechen "One man, one vote" soll sicherstellen, dass alle Menschen bei der Wahl gleich sind. Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel schreibt:

Mit gleichen Wahl- und Beteiligungsoptionen zwischen der Stimmabgabe sollen allen Bürgerinnen und Bürgern ähnliche Partizipationschancen offenstehen und alle Bevölkerungsgruppen politische Entscheidungen prinzipiell gleich beeinflussen können.

Große Unzufriedenheit mit der Demokratie

Das Ausmaß der Ungleichheit wirkt sich negativ auf die Zufriedenheit der Menschen mit der Demokratie aus, wie eine Studie schlussfolgert. Und auch eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung kommt zu diesem Ergebnis. Heute sind mehr als ein Drittel der Deutschen unzufrieden mit der Demokratie.

Ein naheliegender Grund könnte in dem geringen Einfluss der Armen auf den demokratischen Prozess sein. Eine neue Forschungsrichtung untersucht die politischen Durchsetzungschancen verschiedener Bevölkerungsgruppen. Für den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde im Jahr 2017 eine Studie in Auftrag gegeben, die zu einem beunruhigenden Ergebnis kam:

In Deutschland beteiligen sich Bürger_innen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.

Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert. Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft auch auf Deutschland zu.

An einer anderen Stelle ist in der Untersuchung von Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer zu lesen:

Was Bürger:innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.

Die Regierung strich diese heikle Passage. Auf den 706 Seiten langen Bericht heißt es nur noch:

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Politikänderung wahrscheinlicher ist, wenn diese den Einstellungen der Befragten mit höherem Einkommen mehrheitlich entsprach – und umgekehrt.

Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht schreibt vier Jahre später nur lapidar:

Da Demokratie politische Gleichheit impliziert, führt eine sozial selektive Wahlabstinenz zu weniger Legitimität von Politik und dazu, dass die Interessen der wahlabstinenten Bürger weniger repräsentiert sind.

End of Story?

Allen Verteidigern der Demokratie sei aber eine Erkenntnis ins Stammbuch geschrieben, die obige Studie einleitend anführt:

Demokratie ist ein Verfahren, umstrittene Fragen auf eine Weise zu entscheiden, die auch den Unterlegenen als legitim erscheint. Niemand kann dabei erwarten, dass die eigene Meinung stets umgesetzt wird.

Wenn allerdings die Politik systematisch den politischen Präferenzen bestimmter sozialer Gruppen folgt, wohingegen die anderer missachtet werden, wird der Grundsatz politischer Gleichheit beschädigt.

Reichtum ist Macht

Die deutsche Studie kommt bezeichnenderweise zum selben Ergebnis wie eine Untersuchung in den USA von Martin Gilens und Benjamin Page aus dem Jahr 2014:

Die geschätzte Auswirkung der Präferenzen der Durchschnittsbürger sinkt rapide auf einen nicht signifikanten Wert, der nahe Null liegt.

Vor diesem Hintergrund warnt der französische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman:

Reichtum ist Macht und extremer Reichtum ist extreme Macht und damit eine Gefahr für die Demokratie.

Nimmt man den abnehmenden Einfluss der ärmeren Bevölkerung am demokratischen Entscheidungsprozess gebührend zur Kenntnis, zeigt sich die Gefahr einer Ungleichheitsspirale.

Je reicher die Reichsten des Landes werden, desto mehr Einfluss können sie ausüben, desto größer der Anreiz Gesetze zu ändern, die die Belastung der Vermögendsten reduziert und die der Ärmeren erhöht.

Mit anderen Worten – meist mithilfe von finanzkräftigem Lobbyismus – die Weichen der Politik so zu stellen, dass die Zunahme der Ungleichheit, die in den letzten Jahren festzustellen ist, weiter voranschreitet.

Der Wirtschaftswissenschaftler Jonathan Aldred beantwortet daher die Frage, warum das oberste Prozent sich über stetig steigende Gewinne freuen darf:

Die wahre Antwort ist ebenso einfach wie erstaunlich. Einfach, weil letztlich das oberste Prozent schlichtweg beschlossen hat, sich selbst viel mehr zu zahlen. Und erstaunlich, weil wir diese Leute – zumindest am Anfang – dazu eingeladen haben, das zu tun.

Rückzug aus der Demokratie

Der Aussage "Wir leben nur scheinbar in einer Demokratie. Tatsächlich haben die Bürger nichts zu sagen" stimmen bei einer Allensbach-Umfrage ein knappes Drittel zu.

Auch wenn dieses Ergebnis in der Politik wohl für betroffenes Kopfschütteln gesorgt haben mag, erscheint es angesichts obiger Studie über den inexistenten Einfluss der Armen auf den Entscheidungsprozess auch eine nachvollziehbare Reaktion auf eine nicht von der Hand zu weisenden Realität.

Ein weiteres bedenkliches Umfrageergebnis: Ein Drittel der Deutschen hat den Eindruck, von der Politik übersehen zu werden. Sich aber ignoriert zu fühlen, sich also nicht repräsentiert zu fühlen, ist für eine repräsentative Demokratie ein Desaster, weil es der Grundidee des politischen Systems zuwiderläuft.

Die Folge kann kaum überraschen: Arme wenden sich zunehmend vom politischen Entscheidungsprozess ab und gehen nicht zur Wahl. Wie der Elitenforscher Michael Hartmann belegt, zeigt sich immer wieder ein statistischer Zusammenhang zwischen Armut und geringer Wahlbeteiligung.

Das ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen haben Reiche allein durch ihre Wahlbeteiligung einen höheren Einfluss, zum anderen verschwinden ärmere Bevölkerungskreise vom Radar der Politiker.

Auf zu den Extremen

"Auf lange Sicht aber können Demokratien ohne Zustimmung und Unterstützung ihrer Bevölkerung kaum stabil bleiben. Wenn immer größere Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass sie aus politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind – und sich zunehmend selber ausschließen –, wächst die politische Entfremdung. Aus der Politiker- und Politikverdrossenheit kann eine Institutionen- und schließlich sogar Demokratieverdrossenheit entstehen – inklusive Abwanderung zu extremen Parteien,"

warnte Brigitte Geißel bereits im Jahr 2012.

Ihre Worte sollten sich als prophetisch erweisen. In den USA erfreute sich Donald Trump besonders bei den sozial abgehängten Teilen der Bevölkerung an Beliebtheit, was die Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrem Buch Fremd im eigenen Land eindrucksvoll beschreibt.

Ähnlich verhält es sich in Deutschland. Bei der Bundestagswahl 2021 erhielt die AfD gut zehn Prozent der Stimmen. In einkommensschwachen Wahlkreisen lag die Partei hingegen mit rund 16 Prozent knapp hinter der CDU. Aktuell kommt das Ifo-Institut zum Ergebnis:

Wenn der Anteil von Haushalten unter der Armutsgrenze um einen Prozentpunkt steigt, steigt der Stimmenanteil von rechtsextremen Parteien um 0,5 Prozentpunkte bei Bundestagswahlen.

Der Ratschlag von Michael Hartmann ist so naheliegend wie einleuchtend:

Will man dem Rechtspopulismus erfolgversprechend entgegentreten, muss man sich auf den Teil seiner Wählerschaft konzentrieren, der die rechtspopulistischen Parteien derzeit noch überwiegend aus Protest wählt.

Vielleicht wäre das mal ein geeignetes Feld, sich wirklich und grundlegend für den Schutz der Demokratie starkzumachen?

Starke Ungleichheit oder Demokratie

Die Schere der Ungleichheit geht in Deutschland weiter auseinander und die Mitte erodiert. Kein Wunder, dass die politische Mitte ebenso erodiert. Eine Politik, die ernsthaft für den Schutz der Demokratie kämpft, muss zwingend die Frage der Ungleichheit angehen und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.

Ein zentraler Hebel hier ist die Steuerpolitik. Gabriel Zucman fordert:

Jedes ernsthafte Nachdenken über Steuern muss die Ungleichheit in den Mittelpunkt stellen, erst recht in der heutigen Welt der zunehmenden Vermögenskonzentration.

Ebenso sind gezielte Investitionen in Sozialstaat und Gemeinwohl zielführend. Denn wenn der Staat eine ausreichende Grundversorgung gewährleistet, ist Ungleichheit für die Ärmeren leichter erträglich. In jedem Fall bleibt die Warnung von Louis Brandeis, ehemaligem Richter am Obersten Gerichtshof der USA:

Wir können eine Demokratie haben oder den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentrieren, aber wir können nicht beides haben.