"Weil da denk' ich, ich hab frei"

Kinder und Hausarbeit: Erziehen wir unsere Kinder falsch?

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Viel ist darüber geschrieben worden, wie viel Zeit und Aufwand Eltern aus der Mittelklasse in die Erziehung ihrer Kinder stecken. Dabei gilt besonders: Am Schulerfolg hängt alles, möchte man meinen, zum Schulerfolg drängt alles, allen voran der Ehrgeiz der Eltern. Das passt zu einer so sehr an "Performance" von Einzelkämpfern interessierten, daran geradezu klebenden Kultur, doch liefert der Alltag immer wieder Hinweise darauf, dass zur Erziehung mehr gehört.

Die gegenwärtig hoch im Kurs stehenden Zielanforderungen neben der des erfolgreichen, vielseitig beschulten Schülers: Dass die Kinder sich gesundheitsbewusst ernähren, wenig Zucker zu sich nehmen, sich viel bewegen, am besten an der frischen Luft, früh mit dem Computer umgehen können und nicht zu viel passive Zeit vor dem Fernsehbildschirm verbringen, dass sie Disziplin lernen und Grenzen, vernünftige Autorität, Leistungsbereitschaft, das Lernen selbst, etc.

Dass die Erziehung bei all den großen hehren Erfolgs-Zielsetzungen wichtige Lücken im Kleinen lässt, die Großväter, - durch Erfahrung und Abstand vom Tugend-Zeitgeist und seinen Anforderungen weniger berührt -, manchmal zur Verzweiflung bringen, offenbaren manchmal kleinere Alltagsituationen, etwa, wenn es um die Nöte der Klettschuhgeneration geht, die sie mit Schnürsenkel haben (Stirbt Schuhebinden aus?).

Ein Artikel, der kürzlich im Magazin The New Yorker erschienen ist, zielt in dieses Niemandsland der Erziehung, von dem kaum die Rede ist. Anlässlich einer Besprechung mehrerer Erziehungsratgeber beschäftigt sich die Autorin Elizabeth Kolbert mit dem Phänomen, dass Kinder in anderen Kulturkreisen selbstverständlich verrichten, was anscheinend von vielen Kindern, die im Durchschnittshaushalt westlicher Industrienationen aufwachsen, kaum mehr verlangt wird: Dass sie im Haushalt mithelfen.

Quality-Time mit Kindern

Tatsächlich wird das Thema bei Gesprächen unter Eltern von jüngeren Schul- oder Kindergartenkindern, die sich vor allem um Schulzwänge, Leistungen, Geburtstage, Krankheiten, Freundschaften und Entwicklungsstand drehen, kaum erwähnt. Es steht beim Erziehungsplan nicht sehr weit oben, das ist bei Nachfragen herauszufinden. Der Standard in einem westdeutschen Haushalt von gut ausgebildeten, akademischen Eltern mit Doppelverdienern, lässt sich demnach ungefähr auf den Nenner bringen, dass die 6- bis 9-Jährigen ihre Teller nach dem Essen abräumen. Das oder die Kinderzimmer werden gemeinsam mit den Bewohnern und Chaosverursachern aufgeräumt. Darüber hinaus wird selten mehr Unterstützung bei der Haushaltsarbeit verlangt; darauf angesprochen erklären viele Eltern jedoch, dass dies in ihrer eigenen Kindheit noch anders war.

Das sie dies von den eigenen Kindern aber nicht einfordern, begründen Mütter wie Väter mit Zeitnot. Wenn sie es selbst machen, gehe es einfach schneller. Selbst Teller-, Müllwegtragen oder Kehren. Quality-Time mit den Kindern sei wichtiger; vorlesen am Abend, Gespräche, Zusammensitzen. Viel Zeit für Zusammensein gibt es nicht. Manchmal hat man auch nicht die Kraft, die Aufforderung zur Mithilfe durchzusetzen. Umso mehr, als die Haushaltsmitarbeit eben gewohnheitsmäßig - von wenigen Ausnahmen abgesehen - allein Sache der Eltern ist. Auf die Frage, warum er im Kinderhort ohne Murren und geradezu gut gelaunt den Tisch abräume, das Gleiche aber nur unter Murren mache, wenn es zuhause verlangt wird, antwortet ein Neunjähriger: "Weil da denk' ich, ich hab frei."

Erwachsene, die auf Abruf zur Verfügung stehen

Welche Rolle in der Familie und im Haushalt wird dem Kind heute zugemessen oder zugemutet? In den USA die der Abkömmlinge der französischen Thronfolger vor der Revolution. So kann man das im genannten Artikel der New Yorker-Autorin Kolbert lesen:

Mit Ausnahme der kaiserlichen Nachkommen der Ming Dynastie und der Thronerben im vorrevolutionären Frankreich repräsentieren die amerikanischen Kinder der Gegenwart die junge Menschen, die mit der allergrößten Nachsicht in der Weltgeschichte behandelt werden. Es geht nicht nur darum, dass ihnen eine zuvor noch nie dagewesene Fülle an Dingen - Kleidung, Spielen, Kameras, Skiier, Computer, Fernsehgeräte, Mobilfunkgeräte, Playstations, iPods (…) - geschenkt wird. Ihnen wird auch eine noch nie dagewesene Autorität zugestanden. "Eltern wollen die Anerkennung ihres Kindes, eine völlige Verkehrung des Ideals früherer Zeiten, wo sich Kinder um die Anerkennung ihrer Eltern bemühten."

Kolbert zitiert hier aus einem Buch der Psychologieprofessoren Jean Twenge und W. Keith Campbell The Narcissism Epidemic: Living in the Age of Entitlement. Und fügt dem noch die pointierte Beobachtung hinzu, dass Kinder in vielen Familien der Mittelklasse ein, zwei, manchmal drei Erwachsene auf Abruf zur Verfügung stünden.

Kulturkritik

Die Autorin holt, wie man an diesem Beispiel gut sehen kann, in ihrer Rezension von Büchern über die Erziehung von Kindern zu einer wahren Kulturkritik aus, mit Zuspitzungen, die auch Eltern hierzulande Stiche versetzen können. Manche Konservative begrüßen diese Pointierungen geradezu feierlich, weil sie dort Verfehlungen wiedererkennen, die sie seit längerem anprangern und in eigener Verzerrung mit Kulturverfall im Wohlfahrtsstaat in eins setzen. So konstatiert etwa das britische Tory-Blog "The Deep End", dass der unreformierte Wohlfahrtsstaat eine solche Kultur generiert, die Erwachsene zu Kindern und den Staat zu Eltern macht.

Die Aussagen, die Kolbert anhand der Bücher über den Stand der Erziehung in den USA trifft, lassen sich allerdings nicht so vereinnahmen. Von Staat ist bei ihr gar nicht die Rede, auch nicht von konservativ oder progressiv, sondern von einer Kultur, einem "weitgefassten sozialen Experiment" in der Kindererziehung. Ihrer tour d'horizon stellt sie das Beispiel eines sechsjährigen Mädchens voran, das bei den Matsigenka (Machiguenga) im Regenwaldgebiet Perus lebt und eine Anthropologin sehr damit beeindruckt, dass sie, obwohl nur Begleiterin einer Gruppe, also keine Familienangehörige, bei allen Verrichtungen, beim Herrichten des Lagers, beim Transport der Ernte, beim Fischen, Kochen und der Tischvorbereitungen wie selbstverständlich half - "Calm and self-possessed, Yanira asked for nothing."

Von solchen Welten die Brücke zu amerikanischen Familien (und zu Verhältnissen in westlichen Industrieländern) zu schlagen, ist nicht korrekt - die Lebensbedingungen sind nicht zu vergleichen -, aber der Kontrast schärft die Wahrnehmung für Dinge, die bei uns wegen ihrer Selbstverständlichkeit im Alltag kaum mehr wahrgenommen werden. So stellt sich Anthropologin zurück in den USA die Frage: "Why do L.A. adult family members help their children at home more than do Matsigenka?"

Keiner will erwachsen werden?

Kolbert findet darauf eine Antwort, die darauf hinausläuft, dass unsere Kultur die Einstellung begünstigt, das Erwachsenwerden so lange wie möglich hinauszuzögern:

In an increasingly complex and unstable world, it may be adaptive to put off maturity as long as possible. According to this way of thinking, staying forever young means always being ready for the next big thing (whatever that might be).

Die Verlängerung der Adoleszenz bis in die mittleren Lebensjahre, von Kolbert als "adultesence" bezeichnet, könne man aber auch als Zeichen einer generellen Regression begreifen: Die Dinge schleifen lassen, sei immer die einfachste Handlungsmöglichkeit, beim Erziehen der Kinder wie bei Bankgeschäften, bei der Erziehung oder beim Umweltschutz.

A lack of discipline is apparent these days in just about every aspect of American society.

Warum das so ist, könne man sich ja beim Müll-Raustragen oder beim Binden der Schnürsenkel der Kinderschuhe überlegen.