Wenn Thatchers Kinder demonstrieren

May Day in London geht mit klarem Unentschieden zwischen Polizei und Demonstranten aus - wenig Gewalt, viel Seelensuche

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Die hysterische Medienkampagne der letzten Wochen in der britischen Presse gegen die Demonstrationen zum 1.Mai in London hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Angeheizt von Polizei-Pressemeldungen waren Demonstranten pauschal als gewaltbereite Anarchisten vorverurteilt und weitverbreitetes Chaos, Anarchie, Sachbeschädigung und Gewalt prophezeit worden. Dies hatte zum Ergebnis, dass eine der belebtesten Geschäftsstraßen der Welt, die Oxford Street, bereits am frühen Nachmittag zu einer Geisterstadt geworden war. Die meisten Geschäfte hatten geschlossen, viele hatten ihre Eingänge und Schaufensterscheiben mit Holzpanelen oder Wellblech komplett verschalt. Nur wenige hartgesottene Touristen hatten sich ins West End verirrt, neben einigen frühzeitig den Heimweg suchenden Büroangestellten.

London als Geisterstadt: Wie die Traditionsmodemarke Burberry's hatten sich viele Geschäfte verbarrikadiert

Damit hatten die Organisatoren des May Day Monopoly, wie die Proteste gegen Exzesse des Kapitalismus und der Globalisierung getauft worden waren, bereits vor dem Ende des Umzugs ihr Ziel erreicht, gegen die herrschende Wirtschaftsordnung ein Zeichen zu setzen. Die internationalen Ketten und Großkaufhäuser im Konsumparadies Londoner West End haben empfindliche Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. An diesem ersten Mai, der in Großbritannien kein Feiertag ist, haben die Konsumtempel in der Oxford Street und ihren Seitenstraßen wie der ultraluxuriösen New Bond Street kaum etwas verkauft. Das regnerische und kalte Wetter, mit ca. 8° Celsius, tat ein übriges, weite Teile des Londoner Zentrums wie eine verlassene Goldgräberstadt erscheinen zu lassen, wo mit Blaulicht umherfahrende Polzeieinsatzfahrzeuge und über dem Oxford Circus kreisende Helikopter die wenigen Akzente setzten - grell, geräuschvoll und von einer Robocop-artigen Maschinenhaftigkeit.

Die Einsatzkräfte der Polizei hatten sich für den Schlussakt dieses langen Demo-Tages auf eine Strategie der Abgrenzung und Einkesselung festgelegt, die im Großen und Ganzen aufzugehen schien. Früher als angekündigt waren etwa 2000 Demonstranten am Oxford Circus erschienen. Diese wurden von kombinierten Polizeikräften, bestehend aus normalen Straßenpolizisten - den auf Touristenfotos so beliebten Bobbies -, speziell ausgerüsteter Anti-Riot-Police, berittener Polizei und zu Straßensperren zusammengerückten Mannschaftswagen im Zentrum des Oxford Circus ab ca. 14.30 eingeschlossen. Rund um diesen in zwei Ringen errichteten Polizeikordon irrten ca. nocheinmal soviele Demonstranten durch die Straßen rund um den Oxford Circus. Doch da sie weder zum Zentrum der Demonstration vorstoßen, noch die dort eingepferchten ausbrechen konnten, tat sich stundenlang im Wesentlichen nichts. Der Polizei schien das nur recht zu sein und es ergab sich der Eindruck, dass sie darauf setzte, die Demonstrationsteilnehmer zu Tode langweilen zu wollen. Das kaltnasse Wetter tat ein übriges, das Stimmungsbarometer zu drücken.

Durch die Strategie der Abgrenzung fanden sich viele Demonstranten in kleinen Gruppen in Seitenstraßen wieder. Blick auf Regents Street

Die Samba-Trommeltruppe, die schon bei vergangenen Demonstrationen immer wieder einen Brennpunkt der Aktivität herzustellen wußte, brachte kurzzeitig etwas Leben in die starren Fronten. Die Trommler befanden sich nicht im Kessel, sondern nördlich davon, in der Regent Street. Durch ein Flankenmanöver versuchten sie, mehrere hundert Demonstranten im Schlepptau, auf die Oxford Street vorzustoßen und damit die beiden Hauptgruppen der Demonstration zu verbinden. Das wäre auch beinahe gelungen, hätte ihnen nicht die Polizei schnell Verstärkung entgegengeworfen. Hier kam es zu einer der wenigen unschönen Prügelszenen, als Sonderkommandos der Polizei sich mit Schildern der hüpfenden Masse entgegenwarfen und Schlagstöcke ziellos auf alle in den ersten Reihen niederprasseln ließen. Im Endergebnis wurden dadurch die Trommelgruppe und ihr Anhang von etwas unter 1000 Menschen in einem zweiten Kessel in Hollis Street, einer Seitenstraße der Oxford Street, festgehalten.

Trommeln, Gepfeife und Gejohle machte nicht nur die Pferde Scheu

Nocheinmal konnten die Demonstranten punkten, als endlich die "Wombles" auf der Bildfläche erschienen. Diese, wie alle Medien im Vorfeld berichtet hatten, statteten sich nach dem Vorbild der italienischen Anarchisten Ya Basta! mit weißen Overalls aus, die innen mit Schaumstoff ausgestopft sind, und trugen Motorradhelme, Knie- und Ellbogenschützer. Von westlicher Richtung aus der Oxford Street kommend, gelang es ca 100 Wombles, den Polizeikordon kurzzeitig zu sprengen, so dass etwa die Hälfte der Leute, die sich im Hauptkessel am Oxford Circus befanden, diesem entrinnen konnten und anschließend in den Parks und auf den Plätzen des Nobelviertels Mayfair ihre wiedergewonnene Freiheit feierten.

Was nun rein die taktischen Erfolge betrifft, kann man gut und gerne von einem Unentschieden sprechen. Mit der Demonstration war tatsächlich das Geschäftsleben im Zentrum Londons weitgehend zum Erliegen gekommen. Mit kleineren Aktionen früher am Tage - u.a. einer Fahrraddemo, der Verteilung von Veggie-Burgern, einer Demo vor der Londoner Niederlassung der Weltbank und anderen Symbolstätten des Kapitalismus - haben die Demonstranten auf friedliche Art ihre Anliegen zu Gehör gebracht, was zumindest in den Fernsehabendnachrichten auf BBC und Channel4 in eine relativ ausgewogene und auch Inhalte ansprechende Berichterstattung mündete. Die Polizei wiederum kann für sich verbuchen, dass es zu keinen gröberen Ausschreitungen und Sachbeschädigungen kam, sieht man von der Entglasung eines H&M und dem Abmontieren einiger Überwachungskameras ab. Auch die Zahl der Verletzten hielt sich bis zur Stunde in Grenzen und die Verletzungen waren zum Großteil geringfügiger Natur. Ob das nun wegen oder trotz des Vorgehens der Polizei so kam, bliebe zu diskutieren.

Im Hintergrund Schlagstockeinsatz gegen Ausbruchsversuch

Zwischen Polizei und Demonstranten wird es immer Verbalgefechte geben. Demonstrationsteilnehmer kritisierten einerseits die Übermacht der Einsatzkräfte, 6000 gegen 4000, andererseits die Null-Toleranz-Politik, die schon bei geringsten Zeichen des Widerstands zu Verhaftungen führte. Ein Demonstrant wurde zum Beispiel vom Fahrrad gezerrt und verhaftet, nur weil er sich auf Anordnung nicht gleich weiterbewegen wollte, ein anderer, weil er eine Spraydose bei sich führte. Die Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen wiederum damit, dass es ihr so - und nur so - gelungen sei, größere Ausschreitungen zu verhindern. Zwei verletzte Polizisten und eine versuchte Zündelaktion an den holzverschalten Auslagen von Niketown dienten der Polzei als Beweis für die von ihr so heftig vertretene These, dass es einen gewaltbereiten Kern von Demonstranten gebe, dessen Bekämpfung und Eindämmung jeden Aufwand rechtfertige. Hier stehen die Argumente naturgemäß gegeneinander.

Doch was haben die Ereignisse auf einer tieferen Ebene zu bedeuten? Kann man da wirklich so glatt von einem Unentschieden sprechen? Als wäre nichts gewesen, ein paar Beulen zu kurieren, ein paar Glasscheiben zu reparieren, Ende? Ein ungut großer Teil der Medienberichterstattung beschäftigt sich meist nur mit den Gewalt- und Disziplinierungsaspekten.

Das Einkesseln der Demonstranten konnte die Polizei aus ihrer eigenen Sicht deshalb vornehmen, weil sie sich auf ein obskures, in der Thatcher-Ära erlassenes Gesetz berufen konnte, Section 60 des Public Disorder Law. Diese Section 60 war ursprünglich gegen Fußball-Hooligans gerichtet und besagt, dass bei begründeter Annahme, dass es zu Gewalt durch größere Menschengruppen kommt, die Polizei Sonderrechte in deklarierten Zonen hat. In diesen temporären Zonen der erweiterten Polizeigewalt kann sie Menschen die Bewegungsfreiheit nehmen, sie ohne konkreten Verdacht auf eine bestimmte strafbare Handlung durchsuchen, ihre Personalien feststellen und sie fotografieren. Unter Berufung auf Section 60 ist die Polizei eben, während dieser Bericht geschrieben wird, im Begriff, die auf dem Oxford Circus Eingekesselten einzeln aus dem Kessel zu entlassen, sie dabei zu fotografieren, Namen und Adressen aufzunehmen, und wird womöglich diese Informationen für eine eventuelle spätere Strafverfolgung verwenden. Ein von den Demonstranten befragter Anwalt zumindest meint, dass die Einkesselung in Berufung auf Section 60 keineswegs legal sei. Und mit der unverhohlenen Betonung der "Intelligence"-Beschaffungsmethoden der Polizei, der Aufnahme von Fotos- und Personalien, schafft sie ein starkes Abschreckungselement für spätere Demonstrationen. Wer einmal im Kessel war, möchte da nicht so bald wieder hineinkommen, zumal man, wird man als "Wiederholungstäter" ertappt, eher mit Strafverfolgung rechnen muss. Die Demonstranten sagen, dass die Polizei mit dieser Vorgehensweise, im Verbund mit der Vorverurteilungskampagne in den Medien, das Recht auf Demonstratiosnfreiheit unterminiert.

Verstärkung rückt an

Die Polizei entgegnet, dass diese Demonstration von vorneherein illegal war, da nicht angemeldet. Hätten die Demonstranten zumindest Ansprechpersonen genannt, mit denen die Polizei eine vorher festgelegte Route besprechen könnte und Kommunikationskanäle während der Demonstration hat, dann wären der übermäßige Aufwand von Mannschaften und Material nicht nötig und alles könne von vorneherein einen friedfertigeren Lauf gehen, meinte Einsatzleiter Mike Todd. Dem setzen die Demonstranten entgegen, dass es sich um einen anderen Typus von Demonstration, einen anderen Typus von Bewegung handele. Es gäbe eben nicht eine Führungsgruppe, eine klare Hierarchie von Rädelsführern und Mitläufern, sondern eine basisdemokratische Vielzahl von Bewegungen, wobei keine der Gruppen einer anderen ihren Willen aufzwingen und folglich der Polizei auch keinen Verhandlungsführer anbieten könne. Damit mögen sie ja recht haben.

Aber auf einer ideologischen Ebene hängt dieses basisdemokratische Gedankengut auch eng mit der Crux dieser multiplen Bewegungen zusammen. Außer einem verwaschenen Hippie-Anarchismus, gewürzt mit einigen anti-kapitalistischen Phrasen und einer Menge gutmenschlicher Einzel-Anliegen haben sie ideologisch, im Sinne einer Theorie, die auf eine gesellschaftliche Veränderung zielt, nicht viel zu bieten. Wichtig an dieser Bewegung ist, dass sie nach dem totalen Sieg des Kapitalismus und der Selbstzerstörung der Sozialdemokratie durch den Kurs von New Labour (oder hierzulande Rot-Grün) das Vakuum in der gegenwärtigen Politik aufzeigt. Das Fatale ist, dass es den versprengten Horden der Anti-Globalisierungsbewegung auch nicht gelingt, dieses Vakuum zu füllen. Schlimmstenfalls kann sie deshalb allzuleicht marginalisiert oder von innen heraus radikalisiert werden und wirklich in der Gewalt-Sackgasse enden. Das ist zum Glück noch nicht passiert, wie die erstaunlich gut gelaunte Demonstration, trotz des Wetters und der Polizei-Überpräsenz, zeigte.

Das bevorzugte Schuhwerk des globalen anti-kapitalistischen Protests?

Andererseits, es mag zwar nett sein, bewaffnet mit einer zerlesenen Kopie von Naomi Kleins "No Logo" unterm Arm als Neo-Hippie-Kind zu Samba-Trommeln durch einige Seitenstraßen zu hüpfen. Doch zugleich beschleicht den Beobachter der Verdacht, dass es sich hier gar nicht um eine so sehr politisierte Schichte handelt, sondern im Grunde um die völlig entpolitisierten "Kinder des Thatcherismus", die höchstwahrscheinlich zum Großteil der oberen Mittelklasse Englands entstammen; welche die steifen und gebügelten Oberflächen ihrer Eltern gegen bunte Haare, Piercing und illegale Ecstasy-Raves getauscht haben, aber weit weniger außerhalb des Systems stehen, als sie selbst gerne glauben möchten. Viel wahrscheinlicher sind sie so etwas wie die Kehrseite der Medaille, oder auch nur eine weitere demographische Beule des Kapitalismus. Dessen Überlebensfähigkeit besteht ja gerade darin, viele solche Beulen verkraften zu können, aber seine zerstörerische Eroberung des Planeten fortzusetzen, solange keines der grundlegenden Prinzipien ausgehebelt wird. Zugleich zeigen die Ereignisse und die Reaktionen heute abend im Fernsehen, dass die Anliegen der Mayday-Revoluzzer den Vertretern des Establishments gar nicht so fern sind. Ganz Großbritannien befindet sich derzeit scheinbar auf der Suche nach der verlorengegangenen Seele des Kapitalismus. Sollte diese Suche nur ein wenig über den heutigen Tag hinaus anhalten, dann wäre das schon die paar eingeschlagenen Fenster wert gewesen, auch wenn damit die Lösung der sozioökonomischen Probleme auf diesem Planeten immer noch in weiter Ferne liegt.