Wenn die Armee eine Gefahr für das eigene Volk wird

Russland will schnellstmöglich wieder einen führenden Platz unter den mächtigen Staaten der Welt einnehmen. Doch der Zustand seines Militärs ist desolat

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In seiner jährlichen Ansprache an die Nation hat Präsident Wladimir Putin seinem Land daher ehrgeizige Ziele gesetzt. Ganz oben auf der Agenda steht auch das Thema Militärreform, doch wie es aussieht, könnte sich auch dieser Modernisierungsversuch wieder als Papiertiger entpuppen.

So wie sich das in einer Zeit des beginnenden Wahlkampfes gehört, hat Putin in seiner Rede vor dem Parlament Großes in Aussicht gestellt: eine umfassende Aufrüstung der Armee mit modernen Präzisionswaffen, eine Modifizierung der Armeestruktur sowie den Aufbau eines Berufsheers. Dazu kündigte Putin eine Verkürzung des Wehrdienstes ab 2008 auf ein Jahr an, bis 2007 soll darüber hinaus neben der Wehrpflichtigenarmee professionelle Streitkräfte ihren Dienst tun. Nur noch diese Berufssoldaten sollen dann in lokalen Konflikten und Krisenfällen eingesetzt werden. Wer sich zu einem Dienst von drei Jahren verpflichte, solle ein Hochschulstudium vom Staat finanziert bekommen. Bürger der GUS-Staaten sollen nach zwei Jahren Dienst in der Armee in einem vereinfachten Verfahren eingebürgert werden.

Das klingt gut und ist doch sehr vage, genauso wie die Militärdoktrin, die diese Reform tragen soll. Sie spricht allgemein vom Kampf gegen den Terrorismus, dem Einsatz bei territorialen Auseinandersetzungen und lokalen Konflikten sowie der Bekämpfung des Drogenhandels. Auch um welche Waffen es sich handeln wird, bleibt ein Staatsgeheimnis. Die Moscow Times online will jedoch schon wissen, dass darunter so genannte Bunker Buster sowie Miniatombomben sind.

Die Reform der russischen Streitkräfte ist längst überfällig, denn tatsächlich befinden sich diese in einem desolaten Zustand. Von der großen roten Armee, die vier Millionen Mann unter Waffen hatte, sind noch rund 1,16 Millionen geblieben. Dies bedeutet nicht nur ein Gesundschrumpfen, sondern ist vor allem Zeichen des Debakels. Ihr moralischer, technologischer und sozialer Niedergang und in aller erster Linie die inhumanen Zustände, die innerhalb der russischen Streitkräfte herrschen, sind ein offenes Geheimnis: Wegen der Missstände in der Truppe kommen immer weniger junge Menschen der Wehrpflicht nach. Lediglich elf Prozent der Jugendlichen im wehrfähigen Alter leisten nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Iwanow ihren Wehrdienst ab. Mit gutem Grund: Berüchtigt sind Korruption und Brutalitäten, z. B. die Dedowtschina, die systematische Unterdrückung, bei der die länger dienenden die frisch eingezogenen Rekruten quälen, foltern oder erpressen.

Nach den offiziellen Angaben der Militärstaatsanwaltschaft sind im vergangenen Jahr 1 200 Soldaten umgekommen, die Todesfälle in Tschetschenien nicht mitgezählt, dabei wurden 800 Soldaten und Offiziere von ihren Kameraden getötet. Das Komitee der Mütter der Soldaten nennt fast doppelt so hohe Zahlen und berichtet zudem von 40 000 Soldaten die sich wegen der gegen sie ausgeübten Gewalt hilfesuchend an die Organisation gewandt hätten. Rund 3 000 Soldaten seien im vergangenen Jahr desertiert. Schlamperei, Unfälle und Selbstmorde treiben neben der Dedowtschina die traurige Statistik in die Höhe. Meist kommen die genauen Umstände der Todesfälle nie ans Tageslicht.

Die russischen Streitkräfte sind zu einer Armee der Hungerleider verkommen: Blutjunge Wehrpflichtige, die nicht mehr als ihre Uniform besitzen, betteln auf Moskaus Straßen um Almosen. Wie Interfax im Februar meldete leben rund 56 Prozent der russischen Armeeangehörigen unterhalb der Armutsgrenze (derzeit 55 Euro), rund 370 000 Soldatenfamilien haben keine Wohnung. Immer mehr Soldaten schlagen sich mit Nebenjobs als Wachpersonal oder Taxifahrer durch. Oder sie verkaufen ihre Waffen.

Auch von Professionalität kann keine Rede mehr sein. Wie müssen den russischen Generälen die Augen übergegangen sein, beim Anblick des US-amerikanischen High-Tech-Equipments, das im Irak zum Einsatz kam! Das Kriegsgerät der russischen Truppen hingegen ist veraltet und größtenteils nicht mehr einsatzfähig. Kampfübungen sind nur eingeschränkt durchführbar. Im Gespräch mit der Zeitung Rossijskaja Gazeta beklagte General Anatolij Kwaschnin, dass ein Militärpilot jährlich durchschnittlich 100 Flugstunden absolvieren sollte, russische Piloten aber nur auf 6-8 Stunden kämen.

Der russische Generalstab schiebt die auf die chronische Unterfinanzierung, dabei fließen bereits ein Drittel des russischen Staatshaushalts in Verteidigung und Sicherheit. Ein Berufsheer soll die Misere beenden, doch mit dieser Idee kann sich das ausgerechnet das Militär nicht anfreunden. Bei Diskussionen verweist man dort auf die enormen Kosten und knüpft die Realisierung an schwer erfüllbare Konditionen (eine Wohnung für jeden freiwilligen Soldaten). Die Generäle beharren auf dem Standpunkt, dass nur ein Millionenheer von Reservisten die Sicherung eines Landes von der Größe der Russischen Föderation garantieren kann. Dabei ist die Fähigkeit zu einer Generalmobilmachung angesichts der Knappheit von Waffen und Munition nur noch ein Hirngespinst.

Bisher hat das Militär noch jeden Versuch eine professionelle Armee zu schaffen boykottiert. Ein Beispiel ist die 76. Luftwaffendivision in Pskow, die erste Division, die auf Berufssoldaten umgestellt werden sollte. Durch Verspätungen bei den Gehaltszahlungen und der Zuweisung von Wohnungen fanden sich jedoch zu wenig Rekruten. Die jetzt im Dienst stehen haben nach Angaben des dortigen Komitees der Soldatenmütter die Stadt in eine kriminelle Zone verwandelt.

Für eine Berufsarmee sind zwei Dinge nötig: finanzielle Mittel und Humanisierung innerhalb der Streitkräfte. Ansonsten werden sich auch bei guter Bezahlung keine Freiwilligen finden lassen. So lange dies nicht geschieht, muss die Lücke zwangsläufig mit Wehrpflichtigen aufgefüllt werden. Doch das Festklammern an der Wehrpflicht durch den Generalstab hat gute Gründe. Zwar ist bekannt, dass die Gesamtkosten für einen Berufssoldaten im Frieden nur ungefähr 25 Prozent höher sind, als die für einen Wehrpflichtigen, aber ein Krieg wie der in Tschetschenien rechnet sich anders. Dort kommt man ohne Rekruten aus zwei Gründen nicht aus. Erstens kann ein Wehrdienstleistender, der als Invalide aus dem Krieg zurückkehrt, mit einer Minimalpension von ein paar Euro abgespeist werden. Fällt er, dann erhalten seine Eltern eine bescheidene Kompensation.

Ein Berufssoldat dagegen hinterlässt in den meisten Fällen eine ganze Familie, die versorgt werden muss. Das verursacht langfristige Kosten. Berufssoldaten lassen sich auch nicht für einen geringen Sold, der unter Umständen nur unregelmäßig ausbezahlt wird, in einen Kampf schicken, bei dem sie ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren. Außerdem werden sie Rechte einfordern. Unerfahrene Rekruten dagegen sind Verfügungsmasse für die Generäle.

Doch Verteidigungsminister Sergej Iwanow, der bisher recht glücklos versucht hat, Reformen durchzusetzen, spricht jetzt davon, dass binnen eines Jahres 40 000 bis 60 000 Berufssoldaten (Feldwebel) in der Armee dienen werden. Nicht vorgesehen sind in solchen Plänen jedoch, Trainings- und Ausbildungsprogramme. Das bedeutet, dass diese Feldwebel aus dem Pool der Wehrpflichtigen ausgewählt werden und nach ihrer rudimentären sechsmonatigen Grundausbildung in den Kasernen für Ordnung sorgen sollen. Was für Feldwebel werden das sein? Schon lange muss die Armee auf das zurückgreifen, was daherkommt: mehrheitlich junge Männer mit schlechter Schulbildung und problematischem sozialem Hintergrund. Zwar wurden die Rekrutierungsbüros jetzt angewiesen, bei der Musterung strengere Maßstäbe anzulegen und Homosexuelle und Personen mit mentalen Defiziten auszusondern. Nach welchen Regeln dies geschehen soll, ist unklar.

Die Endfassung der Militärreform soll Anfang Juni verabschiedet werden, damit sie in den Staatshaushalt 2004 eingehen kann. Aber zum Jubel über die geplanten Maßnahmen gibt es wenig Anlass, denn schon Gorbatschow hat sich an einer Militärreform versucht - bislang ist jeder Versuch gescheitert. Die zahlreichen Skandale in die Angehörige des Militärs ständig verwickelt sind, das katastrophale Scheitern der Armee bei der Befreiung der Geiseln aus dem Moskauer Theater sind nur einige Indizien, die auf die zunehmende Eskalation der Probleme hinweisen. Es muss etwas geschehen, damit die russische Armee nicht zur Gefahr für das eigene Volk wird.