Wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten ...

LOLA. Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Zwei Schwestern gegen Hitler: Andrew Legges Science-Fiction-Fantasy Lola ist ein Meisterwerk des Unterhaltungskinos – und zeigt, was Bilder möglich machen.

Es war einmal: Stellen wir uns einfach einmal vor, die Geschichte der Popkultur in der Nachkriegszeit hätte einen komplett anderen Verlauf genommen – keine Beatles, keine Stones und kein David Bowie –, und die Musik der 1970er-Jahre klänge stattdessen wie eine Mischung aus Dieter Bohlen, Oktoberfest-Blasmusi und Elektropunk.

Dies, so das bestechende Gedankenexperiment, das dieser Film entfaltet, war tatsächlich eigentlich einmal unsere Geschichte. Glücklicherweise konnte sie im Nachhinein verändert werden. Und das ging folgendermaßen ...

Hätte, hätte ... : Mit dem Fernseher in die Zukunft

Alles beginnt mit zwei Schwestern, Martha und Thomasina, gespielt von Stefanie Martini und Emma Appleton. Sie sind Waisen, und recht wohlhabend, sehen gut aus und leben in einem wunderbaren großen Haus auf dem südenglischen Land. Es dauert nur Sekunden, da beamt uns der irische Regisseur Andrew Legge in seiner filmischen Zeitreise LOLA zurück in die späten Dreißigerjahre.

Es ist die Welt von Virginia Woolfe, von T.S. Eliot, den "Cambridge Five", von Winston Churchill und von Alan Turing, der die verschlüsselte Kommunikation der Deutschen im Zweiten Weltkrieg decodierte – der Goldene Herbst des British Empire.

Martha und Thomasina haben viel Zeit, um herumzutüfteln, sie sind ziemlich klug und experimentierfreudig und so erfinden sie eine merkwürdige Maschine namens L.O.L.A. Es handelt es sich um eine Art Zeit-Sicht-Gerät, mit dem sie wie mit einem Fernseher in die Zukunft blicken können.

LOLA (11 Bilder)

Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Die jungen Frauen benutzen das Gerät zunächst, um ihre eigene Zukunft zu erforschen und entdecken dabei zum Beispiel im Jahr 1973 einen Sänger namens David Bowie.

Doch sehr bald verliert dieses Vergnügen seine Unschuld: Die Schwestern erfahren nämlich auch vom bevorstehenden Zweiten Weltkrieg und sind vor moralische Probleme gestellt. Sollte man mit seinem Wissen in die Geschichte eingreifen?

Stechschritt-Pop: David Bowie hat nie gelebt

Sie beschließen es zu tun, nutzen die Nachrichten von morgen, um das Handeln von heute zu lenken und während der Luftschlacht von England die Bevölkerung anonym zu warnen, damit diese sich vor den deutschen Bombenangriffen schützen kann.

Das fällt natürlich bald auf, und eines Tages entdecken Militärs ihr Versteck. Nun arbeiten die beiden für britischen Geheimdienst – zunächst sehr erfolgreich.

Aber irgendwann entdecken sie, dass David Bowie aus der Zukunft verschwunden ist. Offensichtlich haben ihre Eingriffe ins Rad der Geschichte deren Verlauf und damit die Zukunft verändert ...

Es kommt noch viel schlimmer: Erst bricht eine diplomatische Krise zwischen dem Vereinigten Königreich und seinem engsten Verbündeten, den USA aus, dann landen die Nazis an der englischen Küste und erobern London.

Irgendwann ist dann das Schlimmste eingetreten: Die Nazis haben den Krieg gewonnen. Und statt von David Bowie, von Glam Rock, Pop und Punk, wird die Popkultur von einem Stechschritt-Rabauken bestimmt.

Einige Jahre danach beschließt Martha, die das Geschehen und die Katastrophe, die durch ihre Experimente mit L.O.L.A. verursacht wurde, gefilmt hat, einen Aufklärungsfilm zur Warnung zu drehen und diesen in die Vergangenheit zu schicken, in der Hoffnung, dass Thomasina ihn dort abfangen und die gemeinsamen Fehler korrigieren kann. Das Kino soll zur Waffe der Freiheit werden.

Dies ist der Film, der uns nun gezeigt wird. Er ist das, was wir im Kino sehen. Glücklicherweise hat Martha offenbar Erfolg gehabt.

Plötzlich paradiert die Wehrmacht in London

In seinem allerersten – mit dem sehr bescheidenen Budget von 1,2 Millionen Euro produzierten – Spielfilm ist Andrew Legge auf allen Ebenen, in Stil wie Story, ein Meisterwerk gelungen: ein Science-Fiction-Film, der in Form eines Home-Videos der Vierzigerjahre gedreht wurde.

Der Film ist in seinen Drehbedingungen somit auch ein technisches Wagnis gewesen: Ausgestattet mit 16mm-Kameras und ohne Zusatzbeleuchtung, um den Realismus zu erhöhen, filmte Regisseur Legge Martha, Thomasina und ihre Abenteuer.

LOLA. Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Die Form entspricht damit klassischem Found Footage: Manchmal überbelichtet, mit plötzlichen Schnitten oder Bildabbrüchen, Knistern und Rauschen auf der Tonspur – das vermittelt nicht nur den Eindruck, alle Ereignisse hautnah zu erleben, sondern appelliert auch an unser Bild von der Zeit, in der es spielt.

Dies kombinierte Legge mit historischem Bildmaterial aus dem Archiv und mischte beides so elegant, dass es ununterscheidbar wird: Plötzlich paradiert die Wehrmacht in London, ist der Faschist Oswald Mosley britischer Premier und Adolf Hitler persönlich besucht das Haus der beiden Schwestern.

So hat Legge einen durchaus realistisch wirkenden Film von seltener Originalität und fesselnder Atmosphäre geschaffen ... Sein Ansatz erinnert an den Film "It Happened Here" (1964), der bereits in den Sechzigerjahren mit alternativen Realitäten und der unangenehmen Möglichkeit spielte, dass die Deutschen – und zu Schrecken der Briten auch nationalsozialistische Marschmusik – Großbritannien erobert hätten.

Und er erinnert natürlich an Chris Markers Klassiker "La Jetée" (1962), an den man schon wegen der komplizierten Zeitkalkulationen und verschiedenen, ineinander verschachtelten Zeitebenen denken muss. Auch hier geht es darum: Wie kann man in der Gegenwart dafür sorgen, dass die Zukunft nicht aufs falsche Gleis gerät?

Wie nahe uns die Gefahr durch den Faschismus ist

Insofern und wegen seiner konkreten Bezüge zur Bedrohung durch Nazis aller Art ist LOLA auch ein sehr aktueller Film. Er zeigt, wie nahe uns gegenwärtig die Gefahr durch den Faschismus gerückt ist – es geht hier keineswegs einfach um ferne Vergangenheiten.

LOLA, der auf dem Festival von Locarno Premiere hatte, ist so originell wie aktuell, formal aufregend und zugleich unterhaltsam – ein echter Höhepunkt des Filmjahres 2023, ein Neujahrsfilm für Erwachsene, den man ihn sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

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