Wer ist das "Selbst" in Self-Government?

Die Balance zwischen Industrieselbstregulierung und Nutzermitbestimmung innerhalb der ICANN steht auf dem Spiel, weitere At-large-Wahlen werden immer unwahrscheinlicher

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Geringe Wählerbeteiligung und "nationalistische" Trends bei den ersten globalen Online-Wahlen liefern der Führung der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) die Argumente gegen ein direktes Wahlrecht von Internetusern. Zwar will man offiziell die Ergebnisse eines "At-large-Study"-Komittees (ALSC) mit dem ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Carl Bildt an der Spitze abwarten. Doch die ursprünglich den Endusern zugesagten neun Direktoriumssitze werden hinter vorgehaltener Hand schon jetzt neu verteilt. Bleibt ein Aufschrei der Wähler aus, könnte die erste globale Online-Wahl tatsächlich das "Experiment" bleiben, als das es von Bildt in Stockholm bezeichnet wurde.

Fifty-Fifty sollten sich Unternehmensvertreter und Vertreter der User die Macht über Entscheidungen im Domain Name System teilen. So sahen es die ursprünglichen "Bylaws", die Satzung der ICANN, vor. Neun von 18 Direktoren sollten daher von den Nutzern gewählt werden, jeweils drei von den drei verschiedenen Supporting Organizations - für Domainnamen, IP-Nummern und Protokollstandards - und neun durch die User-Community selbst. Die starke Beteiligung von Otto-Normal-User geht auf die Vorschläge der Clinton-Administration zurück. Diese habe, so sagt rückblickend RIPE-Mitbegründer und Jon-Postel-Preisträger Daniel Karrenberg, eine bessere Chance auf die parlamentarische Zustimmung zum ICANN-Konstrukt erhofft", wenn man möglichst viel Basisdemokratie einbaut."

Regierung wünscht anderes Volk

Jetzt wäre die private Gesellschaft dieses Erbe gerne wieder los. Argumente gegen den direkten Einfluss der User gibt es scheinbar genügend. "Die Leute habe sich registriert, weil sie zum Beispiel in einer SPIEGEL-Kampagne dazu aufgerufen wurden", spielt ICANNs Vorsitzender Vint Cerf auf die starke Medienberichterstattung in Deutschland zur ersten Online-Wahl an. Am Registrierungswettlauf in Asien, bei dem vor allem Japan und China sich ein hartes Rennen lieferten, ist ICANNs Wahlteam allerdings nicht ganz unschuldig. In Stockholm räumte der Politikchef des ICANN-Büros, Andrew McLaughlin, ein, man habe in einer frühen Phase durchaus auf einen "nationalen Wettbewerb" bei der Wählereinschreibung spekuliert, als man die Registrierzahlen der einzelnen Länder veröffentlichte.

Vorstandschef Cerf hält allerdings vor allem das offensichtliche Desinteresse der User nach der Wahl für den schlagenden Beweis dafür, dass die Nutzer in erster Linie wollen, dass das DNS funktioniert. Von den über 150.000 Wählern kamen nur etwa 6.000 der Aufforderung nach, sich auf der Webseite des ALSC zu registrieren, um weiterhin über At-large informiert zu werden. "Zu 80 Prozent off-topic" bezeichnete schließlich ICANNs CEO in seinem Rechenschaftsbericht die Kommentare auf Online-Forumsseiten zu verschiedenen Themen der Stockholmer Sitzung.

"Die Welt ist ein großer Ort"

ALSC-Chef Bildt, dessen erster Auftritt in Stockholm, immerhin ein halbes Jahr nach seiner Ernennung, mit Spannung erwartet worden war, bezeichnete ausserdem das Wahlsystem völlig unzureichend. "Ich bin selbst At large Member", sagt Bildt, "aber ich konnte nicht wählen, weil das System nicht funktionierte". Die Zahl der Wähler bei der Wahl im November war zudem seiner Ansicht nach zu klein. Würden mehr Leute wählen, wären andererseits die Kosten immens, so Bildt, zumindest wenn man wenigstens minimalen demokratischen Ansprüchen gerecht werden wollte.

"Die Anforderungen sollten wenigstens in der Mitte zwischen Florida und Schweden liegen", so Bildt. Die Kosten dafür aber könne ICANN kaum tragen. "Die Welt ist ein großer Ort". Auch wenn der ICANN-Neuling sich noch nicht festlegen wollte, was er und seine Kollegen vom ALSC dem Vorstand der ICANN im November empfehlen wollen, klar ist: von dem Gedanken der globalen Demokratie im Cyberspace hält der Berufspolitiker ebensowenig wie viele "Peers" der technischen Elite.

In Stockholm kam dem ALSC und ICANNs Führung die Forderung der Verwalter der Länderregistrierstellen - wie der deutschen Denic - nach eigenen Vorstandssitzen gerade recht. Das Kommittee werde die Veränderungen der Gesamtstruktur in seine Analyse miteinbeziehen, kündigte Bildt an und Cerf bot an, die Frist für die Ergebnisse über die Jahrestagung im November hinaus zu verschieben.

Willkommene Revolution

Bereits bei der letzten Jahrestagung in Marina del Rey hatten die Manager der Länderregisties, der country code Top Level Domains (ccTLDs), drei bis sechs eigene Direktorensitze gefordert. In Stockholm gaben sie nun bekannt, dass sie aus der DNSO, dem für Domains zuständigen, arg zersplitterten Gremium austreten, um eine eigene Supporting Organization - eine ccSO - zu gründen.

Als Vertreter ihrer "lokalen Communities" sind sie ein heisser Favorit auf die freigebliebenen At-large-Sitze. ICANNs Vorstand könnte durch eine neue Vorstandsstruktur zwei lästige Probleme lösen. Erstens könnte die Einbindung der ccTLD-Manager ins höchste ICANN-Gremium die schleppenden Vertragsverhandlungen zwischen ICANN und den ccTLDs positiv beeinflussen. Seit zwei Jahren ringen beide Seiten darum, wieviel die ccTLDs für welchen Service von Seiten der ICANN bezahlen sollen. Und, zweitens, wären auf elegante Weise zwei oder drei der freigebliebenen At-large-Sitze mit aus Vorstandssicht berechenbaren Kandidaten besetzt. Offen ist dann nur noch die Frage, ob die ccTLD-Vorstandssitze nicht die Begehrlichkeiten der bislang nur als "Berater" zugelassenen Regierungsvertreter des Government Advisory Committee (GAC) wecken werden. Die Regierungsvertreter erheben ja ihrerseits den Anspruch, die eigentlichen Vertreter der Öffentlichkeit zu sein.

Rufer im Wind

Eloquent, aber verloren wirken angesichts dieser Fronten diejenigen, die unbeirrt an der Idee von der halben Macht fürs Volk festhalten. Die NGO and Academic ICANN Study Group (NAIS) präsentierte in Stockholm erste Ergebnisse aus Interviews mit Nutzern in aller Welt über Wahlerfahrungen und -wünsche. Die Mehrzahl der Befragten sprach sich dabei für die Besetzung aller neun vorgesehenen At-large-Sitze durch Online-Wahlen aus. "Teilhabe ist aber mehr als nur Wählen", erinnerte der von der Markle-Stiftung als Projektkoordinator benannte niederländische Jurist Stefan Verhulst bei der Präsentation.

Doch ICANN hat bei der Abschreckung seiner Wählerinnen und Wähler ganze Arbeit geleistet, meint NAIS-Forscher Don Simon von der US-Verbraucherorganisation Common Cause. Nachdem man 150.000 US-Dollar Sponsorengelder in die aufwendige Vorbereitung der ersten globalen Online-Wahl investiert hatte, beließ man es am Ende bei einer einzigen netten Email, mit der den Wählern gedankt wurde. Weder den fünf durch die Nutzer gewählten ICANN-Direktoren, noch den Forschern wurde die Möglickeit gegeben, sich direkt an die Mitglieder zu wenden. Aus Datenschutz-Gründen werden die Adressen bis heute unter Verschluß gehalten wurden. Die ehrenamtlichen At-large-Direktoren sind um ihre Versuche, "ihre" Communities zu vertreten, kaum zu beneiden. Von ICANN dürfen Forscher und At-large-Direktoren jedenfalls keine Unterstützung bei der Mobilisierung der Öffentlichkeit erwarten. Das sagte bei der NAIS-Präsentation ganz offen die ehemalige ICANN-Chefin Esther Dyson, Mitglied im ALSC.

Die Aktivitäten des ALSC wirken tatsächlich noch recht verhalten, mehr als sparsam fliessen die Informationen an die 6000 Mitglieder, die man noch nicht vergrault hat. Ein Großteil der rund 400.000 US-Dollar, die für die Studie eingeplant sind, dürften daher für Reisekosten zu den verschiedenen Treffen der Kommittee-Mitglieder und der von Ihnen zu den Treffen geladenen Gäste ausgegeben werden.

Die ALSC-Auftritte in Stockholm waren dabei ungünstig terminiert, Carl Bildts ersten Bericht zwischen 8.30 und 9 Uhr morgens hat mancher Konferenzteilnehmer möglicherweise verschlafen, das eigentliche ALSC-Treffen fand erst nach Abschluß der eigentlichen ICANN-Konferenz statt. Aber auch zur Diskussion mit den At-large-Direktoren und zur NAIS-Präsentation kamen deutlich weniger Interessierte als zu den Parties der Anbieter alter und neuer Top Level Domains.

Wer gehört zum Self?

Mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Domaingeschäftes werden Checks and Balances innerhalb der ICANN aber ganz offensichtlich immer wichtiger. Unbestritten ist inzwischen, dass von ICANNs Entscheidungen viele Millionen Nutzer direkt betroffen sind. Direkt von den Nutzern gewählte Direktoren müssen deshalb nach Ansicht nicht nur der NAIS-Forscher dringend ein Gleichgewicht zwischen Industrie-, Regierungs- und Bürgerinteressen herstellen.

NAIS-Forscherin Jeanette Hofmann vom Wissenschaftszentrum Berlin sagte, dass es offensichtlich grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen davon gebe, was unter Selbstregulierung zu verstehen sei. "Bedeutet das "Self" einfach Industrieregulierung oder heißt es tatsächlich, dass jeder einbezogen ist?" Möglicherweise würden die Antworten in den USA und Europa zu dieser Frage anders ausfallen, so die Berliner Wissenschaftlerin. Tatsächlich aber warnte ihr US-Kollege Jonathan Weinberg in einem auf der ICANN-Kritikerseite ICANN-Watch veröffentlichten Papier davor, dass eine reine Industrieselbstregulierung eben gerade nicht für die aus Sicht der Verbraucher notwendigen Checks and Balances sorgen würde. Weinberg bemüht sogar den spezifischer Internet-Interessenvertretung völlig unverdächtigen Aristoteles, der sich "der Gefahren einer eigennützigen Herrschaft - auch durch hochverdiente Eliten - bewusst gewesen ist, und daher eine gemischte und auf breiter Basis stehende Regierung empfohlen hat."

Tatsächlich können auch At-large-Kritiker kaum behaupten, dass die fünf gewählten At-large-Direktoren schlechter für ihren Job qualifiziert sind als die von Standardisierungsinstitutionen, Unternehmen und Nummernvergabestellen bestellten. Auch die Legitimation kann man ihnen schwerlich absprechen, sind sie doch immerhin von tausenden von Nutzern gewählt worden - anders als die vor allem von der US-Regierung handverlesenen Direktoren aus der Gründerzeit oder die im Vorstand versammelten Vertreter einiger Unternehmen oder Markenrechtsexperten.

Wenn aber die At-large-Direktoren nicht bald mehr Rückendeckung von denen bekommen, die sie im vergangenen Jahr gewählt haben, könnte die erste globale Online-Wahl leicht die letzte gewesen sein.