Wer will noch sozialdemokratische Politik machen?

Der Berliner SPD-Politiker Raed Saleh verfasst eine Partei-Kritik, die eine Perspektivdiskussion anschieben soll, aber wenig kritisch ist. In Großbritannien ist man da weiter

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Sollen die europäischen Sozialdemokraten wieder sozialdemokratische Politik machen? Darüber gibt es in verschiedenen europäischen Ländern heftigen Streit. In Großbritannien hat Jeremy Corbyn mit Hilfe der Basis einen parteiinternen Putschversuch überstanden. Dahinter steht Tony Blair, der immer noch der Strippenzieher der Parteirechten ist, obwohl mittlerweile eine unabhängige Untersuchung nachgewiesen hat (Chilcot-Bericht setzt Blair unter Druck), dass er für den Irakkrieg verantwortlich ist, der auf Grund von Lügen und Gesetzesbrüchen erfolgte.

Der Erfolg von Corbyn hat Labour einen großen Mitgliederzuwachs beschert, doch die Rechten wollten ihn weiter stürzen. In Spanien könnten die Sozialdemokraten das Schicksal ihrer griechischen Genossen erleiden und ganz abstürzen. Auch dort integriert ein ehemaliger Premierminister, der für Todesschwadrone gegen Oppositionelle verantwortlich war, gegen die, die die Partei wieder mehr in Richtung Sozialdemokratie drängen wollen.

Perspektivdiskussion in der Berliner SPD

Nur in der deutschen SPD machte es bislang den Anscheind, dass solche Debatten nicht geführt werden, weil es dort niemanden mehr gibt, der noch eine sozialdemokratische Politik machen will. Doch nun hat in der Berliner SPD eine Debatte begonnen, die von manchen als Perspektivdiskussion bezeichnet wird. Schließlich hat die SPD in ihren langjährigen Stammland Berlin das schlechteste Wahlergebnis seit Langem eingefahren.

Trotzdem wurden in der medialen Öffentlichkeit oft nur die CDU und die Piraten als Wahlverlierer angesehen. Gerade angesichts der angestrebten Reformkoalition mit Linkspartei und Grünen ist parteiintern die Neigung begrenzt, über die massiven Stimmenverluste und die parteiinternen Fehler zu reden und womöglich auch den Regierenden Bürgermeister Müller in die Verantwortung zu nehmen.

Nun hat mit Raed Saleh einer von Müllers Kontrahenten um den Vorsitz der Berliner Sozialdemokraten in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel daran erinnert, dass die SPD keinen Grund hat, sich als Gewinner der Berliner Wahlen zu gerieren und prompt wird getan, als habe eine Debatte über die Zukunft der SPD begonnen.

SPD als Staats- statt Volkspartei?

Saleh beginnt seinen Beitrag mit einem Faktencheck: Mit 21,6 Prozent habe die SPD Berlin ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Ein Ergebnis, das in vielerlei Hinsicht infrage stelle, was die SPD heute ist und was sie sein sollte. Ihren Status als Volkspartei habe die SPD in vielen Teilen Berlins verloren, in Marzahn-Hellersdorf lag sie auf Platz vier, in manchen Gegenden an den Rändern Berlins war die AfD stärkste Kraft. Nach diesen Ausführungen kommen viele Allgemeinplätze:

Es geht schon mindestens seit Anfang dieses Jahres nicht mehr um die Flüchtlinge, sondern um uns, darum, welches Land wir sein wollen - und welche Parteien dieses Land braucht.

Raed Saleh

Auffällig ist, und das unterscheidet Salehs Beitrag von ähnlichen Debatten in der Labourparty, dass er von Gerechtigkeit spricht und dabei keineswegs Anleihen bei Marx nimmt und so vielleicht zur Frage käme, wie ein Klassenkampf auf der Höhe der Zeit aussehen könnte. Stattdessen besteht für ihn der Gegensatz zwischen den Bürgern und den "einflussreichen Lobbys". In einer Zwischenüberschrift heißt es:

Die Spaltung verläuft zwischen der politischen Blase und den Bürgern.

Statt Kapitalismuskritik wird hier eine Lobbypolitik betrieben, die nicht dadurch plausibler wird, als auch die spanische Protestpartei Podemos sich dieser Methode bedient. Wenn Saleh betont, dass die SPD wieder zur "Bürgerpartei" werden soll und als Gegensatz dazu den Begriff der "Staatspartei" verwendet, fragt man sich, wo da die Alternative ist. Gerade mit ihren Anspruch zur Volkspartei wurde sie auch zur Staatspartei. Damit hat sie sich davon verabschiedet, den Kapitalismus zumindest noch theoretisch zu kritisieren.

Staatspartei war die SPD praktisch seit 1918 und hat sich auch so aufgeführt, als sie ihre eigene Basis, die revolutionäre Veränderungen anstrebte, niederschießen ließ. Schnell stellte sich aber heraus, dass in der Weimarer Republik die SPD nur geduldet war und diejenigen, die die Macht hatten, stellen sie bald vom Platz.

In der BRD vollzog die SPD mit dem Godesberger Programm auch theoretisch den Schritt zur Volks- und Staatspartei. Der Gegensatz, den Salah hier aufmacht, ist also nur konstruiert, hört sich aber kritisch an. Wenn der Taz-Kommentator Uwe Rada Saleh deswegen als Linkspopulist klassifiziert, hat er an diesem Punkt recht.

Es gehört zu den Strategien sich als linkspopulistisch verstehender Strömungen, einen Gegensatz zwischen der Bevölkerung und der Politikerkaste zu kreieren. Doch wenn Uwe Rada schließlich auch den Begriff "Staatspartei" als Populismus bezeichnet, der sehr an das "Establishment" erinnere, das Donald Trump kritisiert, so ist das nirgends belegt .

Davon abgesehen, dass Trump kein Linkspopulist ist, ist es viel wahrscheinlicher, dass Saleh den Begriff Staatspartei so verwendet, wie Podemos in Spanien oder die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien die herrschenden Parteien kritisierten, bevor sie selber dort mitmischen wollten. Zudem ist verwunderlich, dass Uwe Rada nicht auf einen in Berlin näherliegenden Begriffsbezug rekurriert. Schließlich wurde und wird die SED noch immer gerne mit dem Begriff Staatspartei tituliert.