Wer zieht zuerst die Truppen aus Afghanistan ab?

Die Taliban lehnen Verhandlungen mit der Karsai-Regierung ab und könnten durch noch radikalere Kräfte bedrängt werden, während die Isaf-Staaten nach Transitwegen für den Abtransport der riesigen Mengen an Fahrzeugen und Material suchen

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Die Nato wollte eigentlich 2014 die Truppen aus Afghanistan abziehen und hofft bis dahin wohl vergeblich, die Lage einigermaßen stabilisiert zu haben. Die afghanischen Sicherheitskräfte sollen dann alleine die Taliban, andere Aufständische und das organisierte Verbrechen bekämpfen, die weiter durch Gelder der Isaf-Staaten unterstützte afghanische Regierung unter Präsident Karsai soll durch Verhandlungen mit den Taliban seine Position stärken, die Aufständischen einbinden und einen Friedensprozess einleiten.

Allerdings macht der neue französische Hollande dem gemeinsamen Isaf-Plan einen Strich durch die Rechnung: Er will die 3.300 französischen Soldaten schon bis Ende des Jahres abziehen. Das dürfte ein Fanal auch für andere Staaten sein, schneller als bislang geplant Afghanistan den Rücken zu kehren, zumal wenn sie nur kleinere Truppenkontingente im Land stationiert haben. Im Vergleich zu den USA dürften die logistischen Probleme des Truppenabzugs bei den Franzosen überschaubar sein, aber wenn Frankreich aus der Isaf-Disziplin ausbricht, wird das auch die anderen Regierungen unter Druck setzen, nicht als letzte die Stellung zu halten. Abwarten muss man sowieso, wie die Präsidentschaftswahlen in den hoch verschuldeten USA ausgehen und welche Folgen diese für den Afghanistan-Einsatz haben. Die Gegner der Karsai-Regierung können nun aber darauf setzen, dass die Erosion der Macht wohl noch vor 2014 eintreten wird.

Zwar hat Hollande im Gegenzug zum verfrühten Abzug mehr Geld für den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte versprochen. Aber auch bei der weiteren Finanzierung von Armee und Polizei, geschätzte Kosten mehr als 4 Milliarden US-Dollar jährlich, hagelt es nicht gerade an großen Zusagen, auch wenn alle für eine lange Partnerschaft eintreten. Die USA wollen, nachdem die Stärke der Sicherheitskräfte schon einmal aus Kostengründen zusammengestrichen wurde, 1,6 Milliarden geben, Deutschland 150 Millionen, Afghanistan selbst soll sich mit 500 Millionen beteiligen. Da bleibt noch ein erheblicher Rest. Zu erwarten ist, dass sich die Staaten mit hohen Staatsschulden möglichst wegducken werden, was heißt, dass die Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte noch einmal reduziert werden könnte.

Die Taliban bzw. das Islamische Emirat von Afghanistan haben zum Nato-Gipfel in Chicago eine Erklärung veröffentlicht und erneut den Abzug der Isaf-Truppen gefordert. Von den Taliban gehe keine Gefahr für andere Länder aus, in Afghanistan würde es höchstens noch 50 al-Qaida-Mitglieder geben, die Präsenz der ausländischen Truppen und die Existenz der von diesen unterstützten afghanischen Regierung seien das Problem. Die Mudschaheddin würden nur für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen. Wären die ausländischen Soldaten, insbesondere die US-Truppen, aus Afghanistan verschwunden, würden sich die Afghanen untereinander einigen können, weil sie eine gemeinsame Kultur haben. Eine von den USA gesuchte Lösung sei unerwünscht. Das heißt auch, dass die Taliban nun abwarten und kein gesteigertes Interesse an Verhandlungen mit der Karsai-Regierung haben.

Die Taliban kommen nun selbst unter Druck, weil sie von radikaleren Kräften aus den eigenen Reihen überholt werden, wie die New York Times berichtet. Sollte die Gruppe noch mehr an Einfluss gewinnen, könnte die Lage nach Abzug oder schon beim Abzug der Truppen noch explosiver werden. Die Gruppe nennt sich Mullah Dadullah Front nach einem Taliban-Kommandeur, der 2007 getötet wurden, und hat die Verantwortung für die Ermordung des früheren Taliban-Ministers Mulla Arsala Rahmani übernommen. Rahmani galt als ein wichtiger Vermittler für Verhandlungen zwischen Karsai und den Taliban. Zudem soll die Gruppe afghanische Abgeordnete mit Selbstmordanschlägen gedroht haben, um sie davon abzuhalten, für die zwischen der afghanischen Regierung und der US-Regierung vereinbarte "strategische Partnerschaft" zu stimmen. Spekuliert wird, dass die Gruppe möglicherweise mit al-Qaida verbunden ist. Ein Sprecher der Taliban versucht die Bedeutung herunterzuspielen. Die Angriffe der Gruppe seien in Wirklichkeit die Taten eines Einzelnen.

Wichtig aber ist für die Isaf-Staaten die Lösung des logistischen Problems, nicht nur die Soldaten, sondern vor allem auch das seit mehr als 10 Jahren angesammelte Equipment aus dem Land zu schaffen. Dazu sind Transitwege auf dem Land notwendig. Nachdem der Transit durch Pakistan nicht nur gefährlich, sondern wegen des Konflikts zwischen der pakistanischen und der US-Regierung vor allem wegen des Drohnenkriegs und der Tötung von 24 Soldaten durch einen US-Luftangriff, auch nicht gesichert ist, werden andere Routen gesucht. Zwar war der pakistanische Präsident Zardari zum Nato-Treffen in Chicago gekommen, aber es gab offenbar mit den USA noch keine Einigung. Ein kritischer Punkt dürfte der Preis sein. Die pakistanische Regierung verlangt pro Lastwagen nicht mehr 250 US-Dollar, sondern angeblich 5.000.

Offenbar wurde nun eine erste Vereinbarung zwischen der Nato und Usbekistan erreicht, wie der Spiegel berichtet, um im Norden über Usbekistan und von dort an durch Kasachstan und Russland die gewaltigen Mengen an Fahrzeugen und Containern zügig abtransportieren zu können. Russland hat dies auch angeboten, aber auch hier könnten mit den derzeit wieder wachsenden Spannungen Probleme eintreten. Für die Bundeswehr ist der Transitweg über Usbekistan aber eine schwierige Aufgabe. Sie ist mit dem Hauptstützpunkt in Masar-i-Sharif für den Norden des Landes verantwortlich. Und anders als bei den Franzosen dürfte das Weiße Haus einen frühzeitigen Abzug der Deutschen nicht akzeptieren. Das Pentagon würde gerne beiden Transitwege benutzen, um den Abzug zu gewährleisten.