Werbung ist ein Virus

Die CD "popshopping" und wie man Leute dazu bringt, Komplizen bei der eigenen Infektion zu werden

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Der Trick ist die Umhüllung: Die muss attraktiv sein, muss Gutes, Wahres, Schönes versprechen oder zumindest Nützliches, Unterhaltsames. Die verschafft den Zutritt zum System. Dann erst kann die eigennützige Kern-Botschaft ihr Werk verrichten, kann das Verhalten des Systems parasitär in neue Bahnen lenken. Das ist so, wenn ein Stück Viren-RNA menschliche Zellen dazu überredet, es zu replizieren - im Glauben, körpereigene Stoffe vom Protein-Fließband laufen zu lassen. Das ist so, wenn infektiöse e-mails eintrudeln und versprechen, dass uns da jemand sagen will "I Love You". Und das ist so, wenn die Werbung ihre Message an den Herren, an die Dame, and das Kind bringen will.

Die Werbung aber betreibt meist gleich doppelte Einnistung hinter verlockender Fassade: Nicht nur, dass sie ihre immergleiche, virulente Botschaft "Kaufen Sie!" in Bilder, Klänge und Geschichten kleidet, denen wir vermeintlich gerne Aufmerksamkeit widmen, Platz in unserer Lebenszeit und unserem Hirn einräumen. Als (dem Kapitalismus sei's gedankt: symbiotischer) Parasit gräbt sie sich in's Fleisch von Fernsehsendungen, bohrt sich in Filme. Hängt im Gefieder von Zeitschriften. Sitzt balkenbreit im Fell von Websites. Nicht immer aber hatte sie's so leicht wie im Zeitalter von RTL 2 (Motto: "Ich glaub', ich bin im Bahnhofskino!") und Mausklick.

Fast vergessen ist sie schon als (Werbe)medium - die gute alte Schallfolie. Dieser biegsame Rillenträger aus Plastik, den man einst bei ziemlich jeder Gelegenheit - vom Weichspülerkauf bis Zeitschriftenlesen - nachgeschmissen bekam und dem man auf dem heimischen Plattenspieler (Menschen unter 20: Fragt eure Eltern, die kennen solche Apparate noch) wundersame Klänge entlocken konnte. Warum aber sollte man sich auf diese Weise je freiwillig Werbung angehört haben? Bevor wir unsere Vorfahren deshalb dereinst für willfährige Trottel erklären mussten, haben die DJs Sir d'Oeuvre und Señor 45 uns dank heroischer Ausgrabungstätigkeit eine wunderbare Brücke des Verständnisses gebaut. Auf ihrer Compilation "popshopping" haben sie viele Perlen deutschen Liedguts dem nie verstopften Abfluss des Vergessens entrissen. Und da ist nicht nur großartige Musik zu bewundern (teils von späteren Jazz-, Filmmusik- und Easy Listening-Größen wie Gert Wilden, Christian Bruhn, Klaus Doldinger, Horst Jankowski), sondern auch allerlei Strategie, wie man Leute dazu bringt, Komplizen bei der eigenen Infektion zu werden.

Es ist immer gefährlich, anhand einer recht kleinen und willkürlichen Gruppe von Exemplaren (24 vollgültige sind hier versammelt) auf's große Ganze zu schließen - zumal, wenn die Gruppe so heterogen ist wie hier, wo's Überschneidungen mit Fernsehwerbung, Filmtrailer und Messebeschallung gibt. Aber es scheint, dass man erst im Laufe der 70er Jahre gelernt hat, die Aufforderung zum Kauf mehr subkutan, mehr osmotisch zu vermitteln. 1965, bei "Swinging Nordwest" (für Schuh Nordwest), herrscht noch regelrechter Kasernenton, kennen weder Textmenge noch Hysterie ihre Grenzen. "Und jetzt alle noch einmal herhören!", werden wir angeherrscht, "Modisch! Schick!", "Super! Klasse!" uns ins Hirn gebrüllt. "Finger weg von Unbekanntem," ermahnt uns in "Arbeit '70" als nüchternes Voice-Over über einem Blues-Jam der Hauptverband der Berufsgenossenschaft (wobei es hier freilich nicht um Werbung geht, sondern Aufklärung zur Sicherheit am Arbeitsplatz).

Und der Nescafe Calypso von 1959 kann sich einfach nicht mit etwas Südsee-Harry-Belafonte-Feeling zufrieden geben, sondern muss uns auch noch explizit die Vorzüge von Handpflückung und Lufttrocknung vor-radebrechen. (Freilich gibt es schon 1963 den textlosen Tobler Twist, der allerdings wenig zukunftsweisend und seiner Zeit nur deshalb nicht hinterher ist, weil er so unverschämt das im gleichen Jahr erschienene "Puff, the Magic Dragon" abkupfert.)

Etwas sehr Deutsches liegt über fast all den mit Lyrics versehenen Titeln, eine Unbeholfenheit, die aus dem Zwist zwischen dem klassischen Stil der Informations-Werbung und dem Ringen um junge, verstörend aufmüpfige Kunden entspringt, aus dem Wunsch, nicht altmodisch zu sein und doch die immer klaffendere Generationen-Kluft nach beiden Seiten zu überbrücken. Es sind Zeugnisse aus der Zeit, wo man noch immer stramm nach vorn blickt, sich sagt "Schau nicht zurück", nicht mehr an Stiefel denkt sondern an Boots, mit denen man sich frei machen kann, wenn sie denn von Salamander sind ("Frei mit Boots" von Klaus Doldinger).

Die Hauptzielgruppe der versammelten Stücke sind deutlich die älteren Geschwister der Lurchi-Heft-Leser - jene jungen Leute, denen damals die Gegenwart gehörte mit ihren Träumen einer anderen Zukunft. Aber so schnell verfliegt der Mief nicht: Ein bisschen weiter Hallraum macht in der "Space-Freizeit '69" (für die Kölner Freizeitmesse) aus Alleinunterhalter-Orgel, Zupfgitarre und etwas "Ziiiiiiiisch!" noch keine Zukunftsmusik. Erst langsam scheint sich ein spezifischer Stil herausgebildet zu haben, der Jazz, Beat, Big Band und Schlager verschmilzt, in steter Rückkopplung mit Filmmusik und Softporno-Untermalung - vielleicht, weil sich im Laufe der 70er der Mainstream schon wieder die revolutionären Hörner abgestoßen hatte. Vor allem die Werbung für Autos ist es, die lernt, ohne Text und konkrete Botschaft auszukommen, die sich darauf verlässt, zwei, drei Minuten mit gemäßigt innovativem, zeitgemäßem Sound zu füllen und darauf hofft, dass daraus eine Verknüpfung von Lebensgefühl und Marke entsteht. (Die subtile, fast esoterische Verankerung der Marke in der Musik selbst scheint ein einmaliger Sonderweg von Luigi Pelliccionis "Variationen K'71" gewesen zu sein - mit kompositorischer Tradition von Dufay über Bach bis Schumann: Auftraggeber BASF erscheint im Thema mit den Tönen B-A-Es-F.) Dabei wird durchaus auch über Bande gespielt: Christian Bruhn lässt den Ford Taunus nach SHAFT klingen, SHAFT ist cool - der Dreisatz ist leicht zu vervollständigen.

Für uns heute kommt der Reiz dieser Musik aus anderen Verbindungen, die sie ebenso zwangsläufig wie unbeabsichtigt geknüpft hat. Es ist, gerade in ihrem Streben nach zeitgemäßer, attraktiver Oberfläche, enorm zeitgebundene Musik. Musik einer Zeit, die ebenso verschwunden ist wie das Medium Schallfolie. Eine Zeit, in der unsere Wurzeln noch unvermutet tief stecken (wie die Debatte um 68 und die Folgen eben erst wieder beweist). Auf unserer Zeitreise haben wir's dabei doppelt gut, bekommen Genuss ohne Reue: Wir können uns die geschmeidige Viren-Umhüllung sanft ins Ohr oder Tanzbein spülen lassen und wissen zugleich, dass der eigentliche Erregerkeim längst abgetötet ist. Die einzigen Parasiten, die wir uns da noch einfangen können, sind Nostalgie und der Ohrwurm. Womit "popshopping" dann doch ein besonders perfider, weil rekursiver, Werbe-Virus ist: Das Ding preist sich selbst an. Schließlich steht auf dem Cover so vielverheißend "Vol. 1"...

(Various Artists: "popshopping", Crippled Dick Hot Wax! CDHW069, EFA 04422-2; als Doppel-LP mit Bonus-Tracks: EFA 04422-1)