Wie Silvester zum Alptraum werden kann

Viele Flüchtlinge sind schwer traumatisiert. An Silvester können die durchlebten Traumata wieder auftauchen. Doch psychologische Unterstützung ist nicht in Sicht

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Silvester 1989: Hussam (20) kommt kurz nach Mitternacht zitternd wie Espenlaub von seiner Schicht in einer Pizzeria nach Hause. Zitternd und schwer atmend verkriecht er sich am Kachelofen. Zusammengekrümmt sitzt er da und ist außerstande zu reden.

Hussam ist ein palästinensischer Flüchtling aus Beirut. Das Haus seiner Eltern wurde zerbombt, seine Eltern kamen dabei um. Er kam bei einem Onkel unter, bis der ihn dann als Jugendlicher nach Deutschland schickte. Obwohl seine Kriegserlebnisse schon einige Jahre zurückliegen, wurde sein Trauma durch die Silvesterböller wieder wach. Ich halte seine Hände, lege eine Decke um seinen Körper, sage ihm, dass hier kein Krieg ist und keine Bomben fallen. Dass das Feuerwerk hier eine ganz andere Bedeutung hat. Er kann das nicht verstehen.

Silvester 2015: So wie diesem jungen Palästinenser wird es dieses Jahr vielen Kindern und Erwachsenen ergehen, die sich aus den Bürgerkriegsgebieten bis nach Deutschland durchgeschlagen haben. Viele von ihnen leiden unter PTBS, der Posttraumatischen Belastungsstörung. Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass mindestens jeder zweite Flüchtling eine psychische Erkrankung hat und fordert mehr Mittel für die Behandlung.

Ein syrischer Flüchtling schlendert durch die Straßen Jenas. Die Stadt gefällt ihm. Kein Chaos, kein Krieg. Er ist froh, dass er es hierher geschafft hat. An einer Kreuzung bleibt er an einem Thüringer-Bratwurst-Stand stehen. Wie aus dem Nichts überfällt ihn plötzlich Panik. Er bricht zusammen… Es war der Geruch der Würste auf dem Grill. Ein ähnlicher Geruch wie der, der entsteht, wenn menschliches Fleisch verbrannt wird. Der Geruch, der durch die Gitterstäbe zog, als sein Freund im syrischen Gefängnis neben ihm gefoltert wurde.

MDR

Bei der PTBS können neben körperlichen Symptomen auch psychosomatische Beschwerden auftreten. Depressionen, Suizidalität und Alkohol- und Drogenabhängigkeit können nach Angaben der Bundesärztekammer ebenfalls mit der PTBS einhergehen.

Keine psychologische/psychiatrische Betreuung für Geflüchtete

Flüchtlinge haben in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland nur Anspruch auf medizinische Leistungen zur akuten Notversorgung. Psychologische Behandlung und psychiatrische Akutversorgung gehören in der Regel nicht dazu, obwohl es eine große Gefahr der Chronifizierung bei PTBS gibt. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) geht davon aus, dass 50% der Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfer davon betroffen sind.

Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) §§ 4 und 6 wird eine medizinische Versorgung nur bei akuten Erkrankungen, akuten oder chronischen Schmerzzuständen und bei lebensbedrohlichen Erkrankungen gewährt. Die Finanzierung einer psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen ist im AsylbLG nicht vorgesehen.

Seit März 2015 werden Flüchtlinge nach Ablauf von 15 Monaten legalen Aufenthalts in Deutschland sozialrechtlich wie Krankenkassen-Patienten eingestuft. Diese sozialrechtlich weitgehende Gleichstellung der Flüchtlinge nach 15 Monaten hat, zumindest im Bereich der ambulanten Psychotherapie, einen gravierenden Nachteil: Flüchtlinge verfügen zu diesem Zeitpunkt in der Regel noch nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, um eine Psychotherapie in deutscher Sprache wahrnehmen zu können.

Im deutschen Gesundheitswesen gibt es keinen professionellen Dolmetscherdienst, der eine dolmetschergestützte ambulante Psychotherapie für traumatisierte Flüchtlinge ermöglichen könnte. Flüchtlinge, die wegen ihrer Traumatisierung häufig unter massiven und chronischen Schlafstörungen mit Albträumen und Ängsten leiden, sind deswegen tagsüber häufig übermüdet und unkonzentriert. Sie können dann dem Sprachunterricht nicht folgen beziehungsweise sich neu Erlerntes nicht dauerhaft merken. Dies wiederrum erschwert es ihnen, sich mit der Kultur und dem politischen System des Aufnahmelandes vertraut zu machen.

Die Bundespsychotherapeutenkammer verlangt daher "im Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) eine Klarstellung, dass psychisch kranke Flüchtlinge als besonders schutzbedürftige Personen auch in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts einen Anspruch auf eine ausreichende Versorgung, in aller Regel Psychotherapie, haben".