Wie ich bei der ICANN wählen ging

Tricksereien der ICANN bei den Wahlverfahren

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Die ICANN ähnelt zunehmend dem internationalen olympischen Komitee: Sie scheint nicht nur zu demokratischen Verfahrensweisen und der damit einhergehenden Transparenz ein gebrochenes Verhältnis zu haben, sondern sie veranstaltet auch lustige Spielchen.

Das ist die überarbeitete Version eines Artikels, der sich mit dem Wahlsystem der ICANN befasst. Aufgrund eines Irrtums des Autors, auf den dieser durch einen aufmerksamen Leser hingewiesen wurde, wurde der Artikel am 04.10. modifiziert.

Die amüsanten Spiele, mit denen die ICANN das Volk beglückt, laufen unter der Bezeichnung "ICANN @ large" und wurden in der Vergangenheit zumindest in deutschen Medien häufig so behandelt, als ginge es dabei um die Wahlen zu einer wie auch immer gearteten Internet-Regierung. In den vergangenen Wochen durften die Netizens sich bei der ICANN also online als Wähler registrieren, wobei es zu etlichen technischen und organisatorischen Problemen gekommen ist. Bei mir selbst nicht. Ich hatte mich recht früh registriert und bekam den Brief mit meiner PIN rechtzeitig, ebenso wie die Hinweise über den Email-Verteiler. Kleinere Pannen wie die willkürliche und den Wählern viel zu spät mitgeteilte Verlängerung der Nominierungsperiode wollen wir hier einmal kurz vergessen.

Dann kam der wirklich spaßige Teil der Veranstaltung, in dem sich die Kandidaten aufstellen und vom Wahlvolk unterstützen ließen. Ich registrierte überrascht und amüsiert, wie sich die Kandidaten aus der deutschen Internetszene gegen die Lobbyisten der Industrie durchzusetzen begannen. Natürlich hatten die wirklich mächtigen Player es schon verstanden, ihre Leute an dem angeblichen Volksentscheid vorbei in die direkte Kandidatenliste der ICANN zu bugsieren.

Das Spiel war wirklich unterhaltsam. Die Kandidaten schlugen sich in Mailinglisten im besten Usenet-Stil üble "Argumente" um die Ohren und die Wählerschaft polarisierte sich, angesichts der nach Pferderennen-Manier permanent öffentlichen Unterstützerstatistiken, die jede Aktion und jeden Fauxpas mit entsprechenden Reaktionen zu quittieren schienen. Speziell der Fight zwischen Lutz Donnerhacke und Jeanette Hofmann war spannend bis zum Schluss. Mann gegen Frau, Hacker gegen Sozialwissenschaftlerin. Da prallten Welten aufeinander. Dabei wurde die Wählerschaft natürlich nochmals polarisiert. Das ist in Wahlen immer so, das war zu erwarten. Überraschend war aber der in den Diskussionen immer wieder heftig aufflammende Nationalismus, von dem man doch meinen könnte, er sei in Zeiten eines globalen Netzwerks ein Auslaufmodell. Man las oft den Vorwurf, die Deutschen würden die europäischen Wahlen dominieren. Auf deutscher Seite fand man das schade: Jetzt hatte man sich endlich einmal vorbildlich für einen demokratischen Prozess aktiviert und engagiert und erntete dafür nur Prügel. Geschickt von der ICANN, die Welt in verschiedene Regionen aufzuteilen, die aus eng aufeinandersitzenden Nationalstaaten bestehen, die sich untereinander meistens nicht grün sind und sich schon mal gegenseitig behindern.

Nun endeten die Vorwahlen bekanntermaßen zugunsten von Andy Müller-Maguhn und Jeanette Hofmann (Das Internetvolk hat gewählt: in Europa haben zwei Deutsche gewonnen). Nicht, dass man nun als Wähler zwischen diesen beiden entscheiden könnte. Das wäre nicht aufregend genug für die ICANN - und sie hat recht. Man muss natürlich zu den beiden vom Volk gewählten Kandidaten noch fünf eigene, zuverlässige Leute hinzufügen. Diese Verwässerung hat, in Verbindung mit der bei den Vorwahlen erfolgten Polarisierung, natürlich System. Man kann nämlich, wie es die ICANN getan hat, mit einem Wahlsystem, das im angloamerikanischen Raum unter dem Namen "Single Transferable Vote" bekannt ist, nochmals dabei nachhelfen, dass die eigenen Leute eine größere Chance darauf haben, gewählt zu werden.

Da behaupte nochmal einer, dass politologisches Know-how im Zusammenhang mit Internet-Governance irrelevant sei! Denn bei einem Einsatz dieses STV-Systems, das in den 1850er Jahren von Thomas Hare in England und Carl George Andrae in Dänemark erfunden worden ist und heute unter anderem noch in Australien, Malta und Irland im Einsatz ist, kann es sehr wahrscheinlich sein, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen am Ende überhaupt nicht gewählt wird! Die sieben Kandidaten müssen nämlich von den Wählern mit Präferenzziffern von 1 (beliebtester Kandidat) bis 7 (unbeliebtester Kandidat) bewertet werden.

Wenn ein Kandidat nicht auf Anhieb die 50-Prozent-Marke überschreitet und damit Sieger ist, dann wird es kompliziert. Der Letztplazierte wird eliminiert und seine Stimmen auf die in den Wählerlisten jeweils Zweitplazierten verteilt. Das geht so weiter, bis endlich einer der Kandidaten die absolute Mehrheit hat. Wozu das führen kann, haben schon andere, in diesem Fall Steven J. Brams, ein amerikanischer Politologe von der New York University, und Peter C. Fishburne von den Bell Labs in einem Vergleich alternativer Wahlsysteme durchgerechnet und bewertet. Im Fall des STV-Systems kommen die beiden zu dem Schluss, dass es "grundlegende Aspekte der demokratischen Ethik verletzt", da der Kandidat, der im direkten Vergleich jeden anderen Kandidaten schlagen würde und somit eigentlich der Sieger sei, durch das eigentümliche Umverteilungssystem noch zum Verlierer gemacht werden könnte. (Ursprünglicher Text )

Da nun die vom Volk in der ersten Runde ausgewählten Kandidaten bereits einen Prozess der Polarisierung durchlaufen haben und ihre Wählerschaften entsprechend gegeneinander eingestellt sein werden, ist es durchaus wahrscheinlich, dass auch die Wähler aus der "traditionellen Netzbevölkerung", für die eigentlich sowohl Hofmann als auch Müller- Maguhn wählbar sein müssten, nicht beide hintereinander an die Spitze setzen, sondern eher einen ICANN-genehmen Kandidaten dazwischenpuffern werden. Denn wer rechnet, weiß, dass dank des Wahlsystems der ICANN nicht unbedingt der Kandidat mit den meisten Erststimmen gewinnt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass sich an erster oder zweiter Stelle der von den Wählern erstellten Präferenzliste ein von der ICANN bereits sanktionierter Kandidat befindet. Damit minimiert die ICANN das Risiko, sich in ihren Direktoriumssitzungen mit nervenden Dissentern herumschlagen zu müssen, die womöglich nicht von wohlwollenden internationalen Megakonzernen, sondern vom Volk bestimmt worden sind. (Ursprünglicher Text )

Unter diesen Umständen ist es vielleicht ganz gut, dass die ICANN wie immer zu schusselig war, auf der Index-Seite ihrer Homepage einen direkten Link zu den Wahlen zu setzen. HTML scheint doch schwieriger zu sein, als ich immer gedacht habe. Auch die Tatsache, dass die Wahlen von dem Privatunternehmen election.com durchgeführt werden und nicht etwa unter der Schirmherrschaft einer vertrauenswürdigen internationalen Organisation stehen, macht mindestens stutzig (ICANN-Wahlen werden von Unternehmen durchgeführt).

Es gibt vom Insel-Verlag eine wohlfeile und hübsche Taschenbuchausgabe des "Principe" von Niccolò Machiavelli. Für diejenigen, die sich gerne näher mit den Prinzipien des Teilens und Herrschens - und damit auch mit der ICANN und ihren Methoden - auseinandersetzen möchten, sind die 12,90 Mark nicht schlecht angelegt. Ach ja: Und das IOC kann von der ICANN durchaus noch was lernen.