Wie neue Medien den Informationsfluss und damit die Gesellschaft verändern

Ort und Information I

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Neue Medien bedeuten neue kulturelle Umwelten. Sie verändern das Terrain, auf dem wir uns geistig bewegen, und sie verändern den Zugang zu Orten beziehungsweise zu Informationen, was mitunter das gleiche ist. Das Internet und digitale Medien wie das Handy stehen für die bislang letzte große grundsätzliche Veränderung der Medienlandschaft und es gibt nicht wenige Stimmen, die darin ein revolutionäres Potenzial sehen. So werden die Proteste und Machtverschiebungen in den arabischen Ländern gerne in Zusammenhang mit dieser neuen Medienlandschaft - vom Blog bis zum Twittern - gebracht. Mittlerweile scheint sich sogar eine ganze junge Generation über das Internet zu definieren und ihre digitalen Affinitäten als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen zu nutzen. In einer derartigen Situation macht es Sinn, Analysen vorangegangener medialer Umbrüche als Folie für aktuelle Analysen zu nehmen.

So wurde dem Aufkommen des Fernsehens in den 1950er Jahren ein ähnlich revolutionäres Potenzial wie heute dem Internet zugeschrieben. Der amerikanische Medienforscher Joshua Meyrowitz etwa beschreibt in seinem Buch "Überall und nirgends dabei. Die Fernsehgesellschaft"1, wie das damals "neue" Medium Fernsehen die sozialen Beziehungen beeinflusste und thematisiert den Prozess, wie eine Veränderung der Medienlandschaft soziale Umwelten verändert, indem sie den Zugang zu Wissen in einer Gesellschaft verändert.

US-Familie vor dem Fernseher, 1958. Bild: Evert F. Baumgardner/National Archives and Records Administration

Das Fernsehen, so die Argumentation von Meyrowitz, habe dazu geführt, dass viele soziale Bereiche, die vorher getrennt waren, sich nun überlappen (z.B. die Welt der Kinder und der Erwachsenen). Die Menschen waren in verschiedene Informationswelten eingebunden und dadurch voneinander getrennt, da der Zugang zu den verschiedenen Informationswelten mit sozialen Barrieren versehen war (z.B. ist eine gewisse Schulbildung nötig, um ein Buch lesen und verstehen zu können). Diese Trennung wurde noch verstärkt durch die Isolation verschiedener Menschen an verschiedenen Orten. Das wiederum:

erzeugte unterschiedliche soziale Identitäten aufgrund der ganz spezifischen und begrenzten Erfahrungen, die an dem jeweiligen Ort gemacht werden konnten. Indem sie nun viele verschiedene Klassen von Menschen am selben "Ort" "versammelten", haben die elektronischen Medien viele vorher unterschiedliche soziale Rollen ineinander verschwimmen lassen. Die elektronischen Medien beeinflussen uns also nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch dadurch, daß sie die "Situations-Geographie" unseres Lebens entscheidend verändern.

Joshua Meyrowitz

Elektronische Medien wirken sich so auf das soziale Verhalten nicht kraft ihrer Inhalte, sondern durch die den Medien immanente Eigenschaft der Schwächung der Beziehung zwischen physischem und sozialem Ort aus. Ein Prozess, dem Meyrowitz ein emanzipatorisches und demokratiestärkendes Potenzial zuschreibt: "Wissen, das früher den gebildeten Schichten vorbehalten war, ist jetzt allen zugänglich."2

Die Folgen sind auch politischer Natur. Zum einen sind die Identitäten der Menschen nicht mehr an erster Stelle von einem bestimmten Ort und einer bestimmten Gruppe geprägt:

Wenn sich viele früher getrennte Situationen mithilfe der elektronischen Medien vermischen, haben sie vermutlich eine homogenisierende Auswirkung auf Gruppen-Identitäten.

Joshua Meyrowitz

Die Bindung an und die Prägung durch eine traditionelle Gruppe wird so abgeschwächt und diese Bindung wird überlagert durch andere soziale Beziehungen zwischen den Menschen - eine Entwicklung, die in der Soziologie unter den Begriffen der "Individualisierung" und der "Pluralisierung" von Lebensstilen gefasst wird. Die Menschen werden sich durch den Medienkonsum ähnlicher, könnte man diese Argumentation zusammenfassen.

Fernsehen führt so einerseits zur Homogenisierung und zur Integration der verschiedenen Gruppen. Andererseits aber entwickeln die unterprivilegierten Gruppen durch den Zugang zu mehr und anderen Informationen ein Bewusstsein für soziale Unterschiede, was eher soziale Konflikte auslöst:

Die früher Ausgeschlossenen akzeptieren nicht länger den "ihnen zugewiesenen Platz"; sie wollen gleichgestellt werden, während viele Privilegierte versuchen, ihre "Exklusivität" zu behalten.

Joshua Meyrowitz

Diese Analyse legt nahe, so Meyrowitz, dass das soziale Bewusstsein der 1960er Jahre (die Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung) ein teilweise durch Medien vermitteltes Bewusstsein war.

Es fällt nicht schwer, diese Befunde auf das Medium Internet zu übertragen. Mehr als je zuvor findet hier eine Neuorganisation von Informationen statt und ist der Zugang zu bislang verschlossenen "Orten" möglich. Während das Fernsehen uns immerhin etwa den Pressesprecher oder den gerade amtierenden Minister des Bundessozialministeriums ins Wohnzimmer brachte, können wir uns nun von dort per Internet auch die Gesetzesentwürfe, Pressemitteilungen oder Expertisen herunterladen.

Eine der Bereiche, die von diesem neuen Informationsfluss unmittelbar berührt wurde, war der Journalismus. Auch das Fernsehen veränderte den Journalismus, machte ihn schließlich schneller (Live-Übertragungen) und bilddominierter, rührte aber nicht an seinem wesentlichen Merkmal, dem des exklusiven Zugangs zu Informationen. Wer sich vor dem Internet über einen Sachverhalt informieren wollte, war dazu auf die Nachrichten in den Medien des Fernsehens, dem Rundfunk oder der Presse angewiesen.

Heute ist es möglich, dass sich jeder Bürger selbst auf die Websites der Institutionen oder Behörden begibt und dort die entsprechenden Pressemitteilungen liest. Die Folge ist ein Prestigeverlust des Journalisten, dahin ist sein Nimbus als Person mit exklusivem Zugang zu Informationen. Ihm bleibt natürlich nach wie vor die wesentliche Aufgabe der Auswahl und Bewertung von Information, aber jener Teil der Professionalität, der auf exklusiven Zugang beruhte, ist weggebrochen.

Der kanadische Medientheoretiker Harold A. Innis thematisierte das als jene Veränderungen, die in einer Gesellschaft vor sich gehen, wenn neue Medien auftauchen. 3 Ist die Möglichkeit der Kontrolle von Kommunikationsmedien ein wirksames Mittel, um Macht auszuüben, so können neue Medien alte Machtmonopole brechen. In diesem Fall das Informationsmonopol des professionellen Journalisten. Meyrowitz beschrieb das so: Durch das Fernsehen werden Autoritäten in Frage gestellt. Denn Autorität beruht auf Informationskontrolle und ein hoher Status ist davon abhängig, welche Kontrolle über die vorhandenen Kommunikationskanäle möglich ist. Der Verlust von Informationskontrolle durch die Vermischung der Informationssysteme untergrabe so die traditionelle Autorität von Führungspersonen.

Das Internet brachte also - wie andere Medien-"Revolutionen" zuvor - einen Umbruch des Informationsflusses, den man auch als Demokratisierung des Informationszuganges bezeichnen kann.

Teil II: Medien-Revolution und Medien-Macht