Wie sozial sind unsere Schulen?

"Mehr Schein als Sein" - Bildungsgutscheine für Nachhilfeunterricht

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2,5 Millionen Kinder von Geringverdienern und Hartz-IV-Empfängern haben nun aufgrund des Bildungspakets des Bundes einen Rechtsanspruch auf Bildung und Teilhabe. Das heißt, Schüler, die den Anschluss an die Klasse nicht schaffen oder versetzungsgefährdet sind, können mit dem Segen des Jobcenters und des Lehrers einen Bildungsgutschein für Nachhilfe etwa in Deutsch, Mathe oder Englisch durch kommerzielle Nachhilfeinstitute ergattern. Doch das Einlösen der Bildungsgutscheine bei den dafür zuständigen kommunalen Jobcentern geht nur schleppend voran.

Um die Chancengleichheit an deutschen Schulen ist es schlecht bestellt, so lautet eine der großen Kritikpunkte am deutschen Bildungsssystem. Ist die gesponsorte Nachhilfe durch Bildungsgutscheine da nicht ein Weg in die bessere Richtung?

Über diese Frage, über überforderte Eltern und Lehrer, bürokratische Hürden, und warum sich Investitionen in staatliche Ganztagsschulen letztendlich mehr rechnen würden als die Subventionierung kommerzieller Nachhilfeinstitute durch den Bund, sprach Telepolis mit Matthias Anbuhl, dem Leiter der Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Was stört Sie als Gewerkschafter daran, wenn Millionen Kinder und Jugendliche aus ärmeren Elternhäusern eine vom Bund gesponserte Nachhilfe durch Bildungsgutscheine bekommen können?

Matthias Anbuhl: Das Programm klingt gut. Doch ein Drittel des Geldes, das für die Nachhilfeförderung etwa von Kindern von Hartz-IV-Empfängern vorgesehen ist, fließt in den bürokratischen Aufwand der Kommunen.

Das Geld wäre besser angelegt, wenn man es direkt in die Schulen investieren würde. Wir brauchen eine bessere schulische Infrastruktur, von der alle Kinder und Jugendlichen profitieren - egal, ob ihre Eltern Hartz-IV-Empfänger sind oder nicht. Außerdem erspart dies den Kindern und Eltern, sich in der Schule als Hartz-IV-Empfänger zu outen. Und es erspart allen Beteiligten einen erheblichen bürokratischen Aufwand für das gesamte Antragsverfahren.

Kommen Eltern und Schüler nicht umhin, sich bloßzustellen, wenn sie den Bildungsgutschein einlösen?

Matthias Anbuhl: Ja, denn es geht um einen Hartz-IV-Bescheid, den man der Schule offenlegen muss. Kinder, die an Ganztagsschulen gefördert werden, laufen hingegen weniger Gefahr, stigmatisiert zu werden, weil die individuelle Förderung dort allen Kindern und Jugendlichen offen steht und sie direkt an den Unterricht gekoppelt ist.

Es fehlen Informationen, der bürokratische Aufwand ist zu groß

Können alle Kinder, die versetzungsgefährdet sind, auch mit Bildungsgutscheinen für Nachhilfeinstitute gefördert werden?

Matthias Anbuhl: Der Nachhilfemarkt ist ein wahrer Dschungel. Und die Qualität der Anbieter wird leider kaum kontrolliert. Auch für Lehrer ist der Markt völlig unübersichtlich. Von daher ist es offen, ob kommerzielle Nachhilfeinstitute die Schüler individuell angemessen fördern können. Außerdem ist die Kooperation von Schulen mit Nachhilfeinstituten problematisch, weil die Schulen schon aufgrund des Datenschutzes, den Lernstand der Schüler nicht so einfach preisgeben dürfen.

Wie werden die Bildungsgutscheine angenommen?

Matthias Anbuhl: Noch werden die Gutscheine kaum nachgefragt. Das hat auch gute Gründe: Es fehlen Informationen, der bürokratische Aufwand ist zu groß. Und da ist mehr vonnöten als eine Informationskampagne. Für Hartz-IV-Empfänger ist es ohnehin schwierig zu durchschauen, ob sie anspruchsberechtigt sind oder nicht. Kein Wunder: Selbst Schulen, Kommunen und Bund sind sich nicht einig, wie das Bildungspaket vor Ort umgesetzt werden soll.

Dabei haben auch Hartz-IV-Empfänger ein hohes Interesse an einer optimalen Förderung ihrer Kinder. Ich gehe deshalb davon aus, dass sich die meisten Eltern um sinnvolle Angebote kümmern werden. Fraglich ist, ob sie auch wirklich passende Angebote vor Ort finden werden.

Wie kommen Eltern mit Migrationshintergrund mit den Antragsformularen zurecht?

Matthias Anbuhl: Sprachbarrieren sind ein Hindernis: Die Antragsformulare sind in umständlicher Behördensprache gehalten, so dass sie auch für Eltern ohne Migrationshintergrund schwer zu verstehen sind. Ohne eine Begleitung bei den Jobcentern werden sich viele nicht zurechtfinden, egal ob mit oder ohne Zuwanderungshintergrund.

Die Aufgabe der Lehrer

Gehört es überhaupt zur Aufgabe der Lehrer, die Kinder auszusuchen, die zur Nachhilfe gehen sollen?

Matthias Anbuhl: Lehrer sollten solche Entscheidungen nie alleine fällen, sondern sie mit den Eltern abstimmen. Ich halte es zudem für fraglich, dass Lehrer juristisch dazu verpflichtet werden können, mit Jobcentern und Nachhilfeinstituten zusammenzuarbeiten. Lehrer können diese Aufgabe gar nicht alleine schultern.

Was passiert zum Beispiel, wenn Eltern mit der Entscheidung des Lehrers, dass ihr Kind nicht förderungsbedürftig sei, nicht einverstanden sind? Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele Lehrer in einer solchen Situation den Schülerinnen und Schüler zusätzliche Hilfen verwehren. Das widerspricht ihrem pädagogischen Berufsethos.

Also wird vielen Schülern der Gang zum Nachhilfeinstitut nahe gelegt, auch wenn sie das eigentlich gar nicht bräuchten?

Matthias Anbuhl: Deshalb ist es sinnvoll, die Förderung an den Schulen direkt zu intensivieren und sie nicht kommerziellen Nachhilfe-Instituten zu überlassen. Letztlich sind die Bildungsgutscheine in erster Linie eine große Subvention für die Nachhilfe-Branche.

Wenn Lehrer daran mitarbeiten, Schüler zur kommerziellen Nachhilfe zu bringen, ist das nicht ein Eingeständnis ihres pädagogischen Scheiterns?

Matthias Anbuhl: Man kann nicht alle Probleme einfach auf die Lehrer abwälzen. Der Staat muss seiner Verantwortung für ein soziales Bildungswesen gerecht werden, indem er mehr und bessere Ganztagsschulen und Ganztags-Kitas einrichtet. An unseren Schulen müssen neben Lehrern auch Sozialarbeiter und Psychologen arbeiten, die sich um die individuelle Förderung der Kinder - gerade bei familiären Problemen - kümmern.

Mehr Ganztagsschulen?

Warum gelingt es Ganztagsschulen nicht, Kinder und Jugendliche so zu fördern, dass sie auf Subventionierung durch Nachhilfe von Seiten des Bundes verzichten können?

Matthias Anbuhl: 42 Prozent der Schulen in Deutschland sind Ganztagsschulen, aber rund 80 Prozent davon offene Ganztagsschulen, deren Besuch grundsätzlich freiwillig ist. Häufig findet dort am Nachmittag kein Unterricht mehr mit Lehrern statt, sondern lediglich Betreuung durch nicht pädagogisches Personal.

In offenen Ganztagsschulen gibt es Unterricht in der Regel am Vormittag und nachmittags stehen Arbeitsgemeinschaften im Vordergrund, Freizeitgestaltung und Spaß. Mit dieser "Billigvariante" gelingt es nicht in ausreichendem Maße, die soziale Herkunft vom Bildungserfolg zu entkoppeln.

Was ist zu tun?

Matthias Anbuhl: Wir brauchen noch mehr gebundene Ganztagsschulen, die für alle Schüler verpflichtend sind, mit einer festen Personalausstattung und qualifiziertem pädagogischen Personal. Investitionen in Ganztagsschulen müssten deutlich höher ausfallen als die für Bildungsgutscheine. Denn was nützt uns ein 1,3 Milliarden teures Programm für Bildungsgutscheine, das die Schüler nicht erreicht und das Problem der Bildungsarmut nicht wirklich löst?

Im Endeffekt kommt es den Staat günstiger, wenn er, wie bei der ersten Ganztagsschuloffensive, noch einmal vier Milliarden Euro in die Hand nehmen würde. Das wäre ein echtes Programm für mehr Chancengleichheit in der Bildung.

Unser Bildungssystem produziert noch immer millionenfach Bildungsarmut. Das birgt nicht nur sozialen Sprengstoff, wir können uns das auch aus ökonomischen Gründen nicht länger leisten. Aufgrund des demografischen Wandels und des Strukturwandels sinkt die Zahl der Erwerbspersonen, zusätzlich wächst der Bedarf an höheren Qualifikationen.

Wollen wir dieser Entwicklung Rechnung tragen, müssen wir die soziale Auslese im Bildungssystem stoppen. Dazu brauchen wir gute und gebundene Ganztagsschulen, die mit mehr Schulsozialarbeitern ausgestattet werden und die die Schüler besser fördern.

Ist das Bildungsgutscheinsystem gerecht?

Matthias Anbuhl: Das Bildungspaket von Ursula von der Leyen ist mehr Schein als Sein. Das Paket reicht nicht aus, um Kindern aus sozial benachteiligten Elternhäusern wirklich zu helfen. Ich halte das System nicht für geeignet, Bildungsgerechtigkeit herzustellen.