Wieder umsonst: Die Encyclopedia Britannica

Die Ausgabe von 1911 ist jetzt "drin" und enthält manches mehr als Wissen.de & Co.

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Bisher war nicht einmal die Signatur per Internet zu finden: "A 1028111 4o". So lautet die Adresse der elften Auflage der Encyclopedia Britannica in der Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität. Jetzt steht die gesamte Ausgabe in einer Betaversion im Netz(http://www.1911encyclopedia.org/). Für manche Aufgaben ist sie besser geeignet als aktuelle Nachschlagewerke - ob gedruckt oder digital.

"Denken Sie an den leichten Geruch von altem Leder, wenn Sie durch diese Schatzkammer stöbern", schwärmen die Herausgeber. Gleiches wäre auch dem zu empfehlen, der das gedruckte Original aufsucht. "A 1028111 4°" steht in einer schummrigen Ecke im Magazin, auf einem wackligen Stahlregal mit weiß-rotem Absperrband davor. Die Sektion ist um "Umzug" begriffen" - auch wenn hier nichts danach aussieht, als ob es sich je bewegen würde. Der Einband der neunundzwanzig Bücher ist aus blauem Leinen. Der Geruch: pilzig. Die gut 25 000 Seiten Papier sind fleckig und gewellt, und unter der Schicht aus feinweißem Staub, der ein deutliches Kratzen im Hals verursacht, ist die einst goldene Schnittkante kaum mehr zu erkennen.

Soweit zu den sinnlichen Qualitäten, die eine Papierversion der 1911er Britannica ihrer digitalen Schwester voraushat. Hinzu kommen Verzeichnisse mit den Initialen der Autoren, diverse Vorworte, Karten, Tabellen, Zeichnungen und Fotografien. Diese in die Onlineversion mit aufzunehmen, wäre zu teuer gewesen. Auch der Index, der Band fehlt - noch. Aber der Herausgeber, Byron Reese, verspricht: "When we finish, the index which is available by "searching" the site will better than Volume 29."

Die 1911er Online-Britannica ist ein profitorientiertes Unternehmen des Internetverlages PageWise. Werbeanzeigen sollen die Investitionskosten in Höhe von 200.000 Dollar im Laufe der Zeit wieder einspielen. Drei Mitarbeiter waren ein ganzes Jahr damit beschäftigt, die eingescannten Documente mittels Optical Character Recognition (OCR) in die geeignete digitale Form zu bringen. Noch immer läuft die Version nicht ganz fehlerfrei. Manche Seiten lassen sich nicht öffnen, Sonderzeichen wie die Buchstaben des griechischen Alphabets werden falsch wiedergeben, und manche Artikel - "Berlin" zum Beispiel - muss man unter den Einträgen der benachbarten Stichworte suchen.

Trotz ihres Alters ist die 1911er Britannica nicht nur für Historiker ein brauchbares Lexikon. Durch die damals noch vergleichsweise überschaubare Menge nachschlagerelevanten Wissens steht hier im Vergleich zu neueren Enzyklopädien für die einzelnen Stichworte unvergleichlich mehr Platz zur Verfügung - insbesondere für Schriftsteller, Philosophen, Künstler, für geschichtliche Themen und für die zeitgenössische Bevölkerungs-, Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie. Im Vergleich zu ihren Vorgängern zeichnet sich die 1911er Britannica durch etwas kürzere Artikel und durch einen eher journalistischen Stil aus - auch wenn die Beiträge von Fachgelehrten verfasst wurden. Damit kann die 1911er zumindest auf einigen Gebieten durchaus mit zeitgenössischen Werken konkurrieren. Das gilt allemal für die Netz-Lexika.

Online-Enzyklopädien Seit letztem Juli nämlich steht die Online-Ausgabe der aktuellen Britannica(www.britannica), die das volle Spektrum der gedruckten Ausgabe umfasst und das derzeit größte digitale Lexikon darstellt, in ihrem vollen Umfang nur noch angemeldeten (und zahlenden) Benutzern zur Verfügung.

Wirkliche Alternativen, die das verloren gegangene Gratis-Angebot ersetzen könnten, gibt es kaum. Die Microsoft Encarta hält zwar 18. 000 Artikel bereit, verweist in den Suchergebnissen immer wieder auf die Einträge in der CD-Version des Lexikons. Xipolis bietet kostenlos hauptsächlich einen einbändigen Brockhaus. Für die Benutzung des großen Brockhauses, des Dudens, von Kindlers Neuem Literaturlexikon, dem Film-Dienst-Lexikon, dem Archiv von "Spektrum der Wissenschaft" und anderen Angeboten muss man bezahlen. www.infoplease.com, ein Angebot des US-amerikanischen Learning Network, enthält immerhin die sechste Auflage Columbia Encyclopedia mit 57.000 Artikeln und einen Almanach mit einer Reihe von populär aufgemachten Dossiers zu verschiedenen Themen. Außerdem gibt es noch www.wissen.de - ein Angebot des Bertelsmann-Verlages, das das Wahrig Wörterbuch umfasst.

Der digitale Brockhaus von 1906 Auch von Seiten anderer historischer Nachschlagewerke erwächst der 1911er Britannica wenig Konkurrenz. Alte Enzyklopädien gibt es so gut wie gar nicht in elektronischer Form. Lediglich die Digitale Bibliothek etwa, in deren Verlagsprogramm bereits etliche historische Titel erschienen sind, hat vor kurzem den Brockhaus von 1906 herausgebracht - leider nur das "Kleine Konversations-Lexikon", nicht den siebzehnbändigen Großen Brockhaus. So viel wie in einem zwölfbändigen Taschenlexikon, behauptet der Verlag, steht aber im Konversationslexikon trotzdem drin. Neben den 80.000 Einträgen - darunter so illustre Stichworten wie "Berme", "Besemschon" und "Pomolog" - enthält die Version diverse Suchfunktionen, dazu zahlreiche bunte Karten und Diagramme.

Zum Vergleich: Der aktuelle CD-Brockhaus, Brockhaus Multimedial, bietet auch nur 190 000 Stichworteinträge. Der verbleibende Speicherplatz des mehr"bändigen" CD-Lexikons ist belegt mit bewegten und mit stillen Bildern: Unter "BSE" gibt es ein Video und ein Bild zu sehen, das eine tote Kuh auf einem Lieferwagen zeigt. Damit kann weder der Brockhaus noch die 1911er Britannica dienen, auch wenn diese zum vielleicht vergleichbaren Thema Cholera einen Eintrag führt, der in einer Tageszeitung mehrere ganze Seiten füllen würde - ohne Fotografien.