Wildblumen im Barockgarten

Blueberry Garden

2008 war das Jahr von "Braid" und "World of Goo", und auch 2009 sind Independent Games weiter auf dem Vormarsch. Jetzt erscheint "Blueberry Garden", Preisträger des diesjährigen "Independent Games Festivals".

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Ordentlich abgezirkelte Rasenflächen mit millimetergenau getrimmten Grashalmen, dazwischen weitläufige Blumenrabatte in knalligen Farben - wäre die Games-Industrie ein Park, sie würde sich wohl am liebsten so sehen: Als fein säuberlich aufgeteilter Barockgarten mit klar strukturiertem Unterhaltungsangebot. Auf festgeklopten Kieswegen wandelt der Konsument zwischen Beeten mit Action-Krachern, familienfreundlichen Wii-Spielen, kostenpflichtigen Browser-Games und anderem erbaulichem Zierat. Doch die Natur macht da nicht mit: Längst hat in dem Möchtegern-Vorzeigepark eine stille Revolution eingesetzt. Independent Games, die Wildblumen der Games-Branche, sprießen an allen Ecken aus dem Boden - und das in immer neuen, fantastischen Formen und Farben. 2009 bekommen die kleinen, aber feinen Spieleproduktionen mehr Aufmerksamkeit als je zuvor - und das zurecht.

Das Jahr begann bereits sehr vielversprechend. Im Januar veröffentlichte der Finne Petri Purho sein Crayon Physics Deluxe für iPhone und PC: ein beeindruckendes Spiel mit Schwerkraft und selbstgezeichneten zweidimensionalen Körpern. Im Frühling brachte dann eine ganze Reihe von Independent Games die Branche zum Blühen: Mitte März präsentierte die belgische Spieleschmiede "Tale of Tales" mit The Path eine sanfte Horror-Version des Märchens "Rotkäppchen": mit sechs Schwestern unterschiedlichen Alters, die im geheimnisvollen Wald nicht nur auf Wölfe stoßen. Anfang April schickte uns eine Gruppe österreichischer Gamedesign-Studenten durch Höhlen- und Dschungellandschaften in Papiercollage-Technik. Der Clou: Hindernisse lassen sich in And Yet It Moves durch 90- oder 180-Grad-Drehs des gesamten Levels überwinden.

Eine Woche später folgte die lange erwartete PC-Version des 2008 überaus erfolgreichen Xbox-Spiels Braid: eine Mischung aus Platformer und Puzzle, bei der Rätsel durch Zeitmanipulation gelöst werden müssen. Ähnliches Kopfzerbrechen bereitet das Steampunk-Rätsel Cogs, bei dem der Spieler aus verschiebbaren Zahnrädern und Röhren komplexe Maschinen konstruiert. Wer jetzt denkt, Independent Games seien nur etwas für rauchende Köpfe, der irrt: Das ebenfalls Mitte April erschienene Gratis-Browserspiel Scarygirl trumpft mit einer fantastischen Gothic-Grafik à la Tim Burton auf. Und das chilenische Indie-Game Zeno Clash ist beides zugleich: visuelle Überwältigung und knallhartes Beat'em'Up in der fantastischen Parallelwelt Zenozoik.

Blueberry Garden

Das Mekka der weitverzweigten und stark vernetzten Independent-Games-Szene ist das jährlich stattfindende Independent Games Festival in San Francisco. Der Hauptpreis, der "Seumas McNally Grand Prize", ist mit immerhin 30.000 US-Dollar dotiert - ein nettes Hilfspaket für Projekte, die oftmals ohne kommerzielle Verwertungsabsicht starten. Den diesjährigen Hauptpreis gewann ein Spiel, das bereits im Vorfeld zu den Favoriten gehörte: Blueberry Garden, das Ein-Mann-Projekt des 22-jährigen Schweden Erik Svedang. Aus einer Vielzahl hochinteressanter Spiele kürte die IGF-Jury "Blueberry Garden" nicht zuletzt deshalb zum Sieger, weil es den Geist des Independent Game beispielhaft verkörpert: Mit einem offenen Design, in dem sich die Fantasie des Spielers frei entfalten kann. Neugier ist Trumpf in dieser Welt aus freischwebenden Felsplattformen, zarten Gewächsen und seltsamen Kreaturen. Ein klar definiertes Spielziel sucht man vergeblich - und ist dafür um so offener für die Schönheit dieses Gartenspielplatzes.

Blueberry Garden

Zu Beginn von "Blueberry Garden" sehen wir kurz einen laufenden Wasserhahn, dessen gurgelnder Strahl ins Nirgendwo stürzt - Schnitt. Die nächste Einstellung zeigt eine zierliche Menschengestalt mit Hut und Vogelschnabel, die etwas verloren in der zweidimensionalen Landschaft steht. Durch sanft im Winde schaukelnde Blumen lassen wir das Männchen seine ersten Schritte tun: hin zu einer skizzierten Tür, durch die wir auf eine höher gelegene Plattform gelangen. Jetzt beginnt das Vergnügen, denn der Vogelmensch kann tatsächlich fliegen: Mit rudernden Ärmchen segelt er hinauf in den Himmel, wo Schäfchenwolken treiben. Unten am Boden tauchen Blaubeersträucher auf und allerlei seltsames Getier auf - Vögel, Schnecken und kleine Kopffüßler mit Partyhüten, die Blaubeeren mit weit aufgerissenen Mäulern verspeisen. Und spätestens jetzt sehen wir auch die Wassermassen, die dieses bizarre Biotop zu überfluten drohen.

Der Pegel verharrt zunächst auf einem ungefährlichen Niveau, steigt dann aber immer schneller an - spätestens jetzt machen wir uns ernsthafte Gedanken darüber, wie wir den Wasserhahn finden und zudrehen können. Liegt des Rätsels Lösung in den Pflanzen? Neben den Blaubeersträuchern gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Gewächse, deren Früchte man ernten und verspeisen kann - mit interessanten Nebeneffekten. Immer wieder stoßen wir zudem auf seltsam überdimensionierte Gebrauchsgegenstände wie Salzstreuer oder Bleistifte, die sich einsammeln lassen. Alles - die Tiere, die Pflanzen und die Gegenstände - scheint irgendwie zusammen zu hängen, zu einem organischen Ganzen zu gehören. Diesen Eindruck einer Symbiose vermittelt "Blueberry Garden" auch deshalb, weil das Spiel in Echtzeit berechnet wird: Jeder Teil dieser Welt entwickelt sich auch dann weiter, wenn er nicht auf dem Bildschirm zu sehen ist. Die Tiere vermehren sich, und aus jedem Pflanzensamen, den der Wind oder die Schwerkraft transportiert, entstehen neue Büsche und Blumen.

Blueberry Garden

Bei aller Dynamik einer sich ständig verändernden Spielwelt bietet "Blueberry Garden" ein wunderbar entspanntes Spielerlebnis. Die liebevoll gezeichneten Details und die träumerische Klavierbegleitung von Daduk verfehlen ihre Wirkung nicht. Der Wasserpegel steigt - was soll's? Der Neugier auf diese geheimnisvolle Welt und ihre vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten tut dies keinen Abbruch, Entdeckergeist und Experimentierfreude sind gefragt. "Blueberry Garden" besitzt somit einen hohen Wiederspielwert, selbst wenn das eigentliche Rätsel schon gelöst ist. Die vergleichsweise kurze Durchspieldauer sollte nicht vom Kauf abhalten. Zeitgleich mit der Vollversion soll am 8. Juni auch eine Demo-Version herauskommen.

Blueberry Garden

"Blueberry Garden" erscheint auf Steam, einer Vertriebsplattform für PC-Spiele, die zusammen mit Download-Diensten wie Direct2Drive oder Metaboli großen Anteil an der zunehmenden Verbreitung von Independent Games hat. Auch auf den Spielkonsolen erfreuen sich Indie-Games steigender Beliebtheit: Nintendo und Microsoft haben bereits reagiert und bieten sie verstärkt auf Xbox Live, im Playstation-Network und im Wiiware-Shop an. Das bereits erwähnte "Braid" wurde für die Xbox allein in der ersten Woche 55.000 Mal verkauft und war damit neben World of Goo der Top-Indie-Seller im Jahr 2008. Im laufenden Jahr konnte zwar noch kein neues Independent Game an diesen Verkaufserfolg anknüpfen.

Es sitzen aber noch eine ganze Reihe vielversprechender Spiele in den Startlöchern: das Plattform-Game Fez, das optische Illusionen à la Escher bietet; Feist, ein Sidescroller im Silhouetten-Stil, der von zwei Studenten der Zürcher Hochschule der Künste entwickelt wird; nicht zu vergessen Machinarium, ein wunderschönes Point-and-Click-Adventure des tschechischen Independent-Studios "Amanita Design". Auch die übrigen IGF-Finalisten sollte man im Auge behalten - Seiten wie Indiegames.com, TIGSource oder Gametummel informieren über anstehende Releases.