Wir sind alle Tymoschenko-Fans

Allmählich gehen mir die aufgeregten Bekundungen gegen die Ukraine auf den Keks. Tymoschenko ist kein Unschuldslamm, sondern Teil der ukrainischen Macht- und Geldelite

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Ist nur gut, dass in der Ukraine die Fußball-EM stattfindet und man dort, obgleich es immerhin eine gewählte Regierung gibt, von einer Diktatur spricht. Jeder kann sich jetzt als Vertreter des Rechtsstaats aufspielen, die ukrainische Regierung geißeln und für eine humane Behandlung bzw. Freilassung der einstigen "Jeanne d'Arc der orangenen Revolution" eintreten, der blonden Julija Tymoschenko, die nun ein wehrloses, krankes und misshandeltes Opfer des Regimes zu sein scheint.

Dabei geht schon mal unter, dass der Eurovision Song Contest fröhlich und unbekümmert in Aserbeidschan veranstaltet wird. Hier gibt es wirklich eine Diktatur, zumindest wird autokratisch und repressiv regiert. Meinungs- und Pressefreiheit sind eingeschränkt, die Opposition wird unterdrückt, Wahlen werden gefälscht, es kommt zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und auch Folter. Hier lässt es sich gut und europäisch vereint singen. Aserbeidschan ist nämlich auch enger Verbündeter im Kampf gegen den Terror, soll Israel Militärflughäfen für einen möglichen Angriff auf den Iran zur Verfügung gestellt haben und hat vor allem riesige Öl- und Gasressourcen. Mit so einem Land mag es sich kein Regierungspolitiker verscherzen.

Das wehrlose blonde Opfer. Bild: premier.gov. ru

Gut, zum ESC kommen normalerweise keine Regierungsvertreter, wohl aber zur EM. Und jetzt drängeln sich alle darum, zur Nichtteilnahme aufzurufen und überhaupt über einen Boykott nachzudenken. Viele fänden den dämlich, weil damit der Druck auf die Ukraine nachlassen würde, rufen aber Fans und Spieler dazu auf, Stellung zu beziehen, also für die arme Tymoschenko einzutreten, die vom bösen Präsidenten Janukowitsch unterdrückt wird. Über die in der Ukraine betriebenen Machtspiele spricht man dabei nicht so gerne, weiß vielleicht auch zu wenig davon, ist ja auch schwierig, diesen Filz zu durchdringen. Mittlerweile aber nervt diese Menschenrechtstümelei, als ob in der Ukraine ein unschuldiges Lamm unter die Räder kommt - und nun alle antreten müssen, um Tymoschenko zu befreien, die nicht umsnst auch "Gasprinzessin" heißt und die reichste Frau der Ukraine sein soll.

2010 hatte Wiktor Janukowitsch, gegen den die schwerreiche Julija Tymoschenko auch schon im Präsidentschaftswahlkampf 2004 angetreten ist - und nach den Wirren der orangenen Revolution und einer erneuten Stichwahl unter Präsident Wiktor Juschtschenko, mit dem sie seither in Zwist liegt, das erste Mal Regierungschefin wurde - in den Wahlen wieder gewonnen. Verurteilt wurde Tymoschenko, weil sie im Gasstreit mit Russland (Europa guckt in die Röhre) als Regierungschefin 2009 einen für die Ukraine ungünstigen Deal geschlossen hat und ihr deswegen vorgeworfen wurde, dass sie Amtsmissbrauch begangen habe. Würde man diese Messlatte zugrundelegen, müssten viele Politiker in Regierungsämtern verurteilt werden. Vielleicht ist auch deshalb die Aufregung bei diesen so groß.

Dazu gab es eine ganze Reihe von Verdächtigungen, die zu Ermittlungen gegen Tymoschenko führten, u.a. wegen Veruntreuung von Gelder während ihrer Zeit als Chefin des Energiekonzerns oder wegen einer möglichen Verwicklung in einen Mord. Hier gibt es Verbindungen zu einem engen Vertrauten namens Pawlo Lasarenko, der in den USA eine wegen Betrug und Geldwäsche verurteilt wurde. Er war früher Gouverneur von Dnepropetrovsk und arbeitete eng mit Tymoschenko als Chefin des Energiekonzerns zusammen.

Tymoschenko gehört seit Jahrzehnten zur Machtelite des Landes und ist in den postsowjetischen Zeiten wie viele andere reich und einflussreich geworden (Who is Who im Kiever Machtkampf?). Schon 1991 stieg sie mit ihrem Mann in den lukrativen und korrupten Treibstoff- und Erdgashandel ein, wurde zur Chefin des Energiekonzerns EESU, knüpfte zahlreiche Verbindungen und wurde zur Chefin des größten ukrainischen Energiekonzerns mit dem schönen Namen JeESU (übersetzt und prosaischer: Einheitliche Energiesysteme der Ukraine). 1999 gründete sie ihre eigene Partei und war schon mal unter dem damaligen Regierungschef Juschtschenko und dem Präsidenten Kutschma, der 2004 Janukowitsch förderte, bis 2001 dessen Stellvertreterin und verantwortlich für Energie.

Die "Revolution" spülte also nur Politiker hoch, die schon zuvor im Geschäft waren. Auch 2001 war Tymoschenko schon mal im Visier der Polizei, u.a. wegen Steuerhinterziehung. 2005 wurde Tymoschenko von Juschtschenko entlassen, sie blieb aber weiterhin beliebt und wurde 2007 nach den Parlamentswahlen wieder Regierungschefin bis zu den Wahlen 2010. Dann wurde sie wegen Amtsmissbrauch zu sieben Jahre Haft verurteilt. Ihr Mann suchte lieber das Weite. Dann kam es zu Konflikten über ihren Gesundheitszustand. Sie scheint, so sollen es Ärzte der Berliner Charité bestätigt haben, einen schweren Bandscheibenvorfall erlitten haben. Tymoschenko lehnt eine Behandlung durch ukrainische Ärzte ab, was auch ein politisches Spiel sein kann, zumal sie nun auch zusätzlich wegen Steuerhinterziehung verklagt wurde und wegen ihrer Krankheit nicht vor Gericht erschienen ist. Ob sie geschlagen wurde, wie sie behauptet, ist unklar.

Die deutsche Regierung Link auf http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,830636,00.html nun der ukrainischen Regierung eine gesichtswahrende Brücke an. Tymoschenko soll in Deutschland behandelt werden - was auch heißt, dass sie der ukrainischen Gesetzgebung entkommen kann. Aber so wirklich ernst nehmen kann man die Aufregung nicht. Für die gebe es viel Gelegenheit. Und was sagen die Piraten? Der neue Vorsitzende Schlömer meint, man dürfe Fußball und Menschenrechte nicht vermischen und sagte die weisen Worte:

Man sollte sich auf die Menschenrechtssituation konzentrieren und nicht auf die Durchführung einer Fußballmeisterschaft. Jetzt wird jedoch ein unpassender Zusammenhang hergestellt. Man redet nur noch über Fußball und nicht mehr über Frau Tymoschenko.

Also geht es nur um Tymoschenko als Einzelfall, auf den man sich konzentrieren muss? Und eine Fußballmeisterschaft in einem Land hat nichts mit der Menschenrechtssituation zu tun? Ein bisschen mehr Nachdenklichkeit würde man sich eigentlich schon wünschen. Wenn man sich vom Politikzirkus absetzen will, sollte dies doch ein wenig differenzierter erfolgen.