Wird die Wall Street deutsch?

Der Jubel über die Übernahme der New York Stock Exchange dürfte verfrüht sein

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Die guten Geschäfte macht die Wall Street traditionell selbst und so drängt sich die Frage auf, was denn hinter dieser symbolträchtigen (angeblichen) Übernahme des zentralen Kulminationspunktes des westlichen Kapitalismus durch die Deutsche Börse stecken könnte.

Für Wall Street-Veteranen wie den frühere Goldman Sachs-Chef John C. Whitehead ist die Übernahme durch die Deutsche Börse eine glatte Frechheit. Die an der Wall Street angesiedelte Aktienbörse sei ein wichtiges Symbol des amerikanischen Kapitalismus und des Status von New York als globales Finanzzentrum. "Für mich ist die NYSE eine heilige Institution. Die Übernahme ist eine Beleidigung für New York City, für den Staat von New York State, und in der Tat für ganz Amerika", sagte er gegenüber Bloomberg News.

Möglicherweise hat der schon lange pensionierte Banker einige neuere Entwicklungen verschlafen, allerdings geben die wichtigsten Indizes der NYSE – der Dow Jones Industrial und der S&P 500 - den globalen Finanzmärkten nach wie vor den Takt vor. Die NYSE ist eindeutig der wichtigste Indikator für die "Risikoneigung" an den internationalen Finanzmärkten, den jeder Marktteilnehmer beobachten muss. Warum sich das Management der NYSE also der Schmach aussetzt, dieses strahlende Symbol für die internationale Vormachtstellung des US-Kapitalismus ins Ausland zu verkaufen, ist angesichts der doch sehr patriotischen USA daher von vornherein verdächtig.

Nun gilt natürlich auch bei dieser Fusion, dass daraus eine breitere Streuung der Aktienanteile resultiert. Davon profitiert vor allem das Management, dessen Macht umso größer wird, je kleiner die relativen Anteile der größten Aktionäre werden. Nach der Fusion muss es sich dann zwar mit, grob gesagt, doppelt so vielen Kernaktionären auseinandersetzen, deren Stimmrechte werden sich dann aber jeweils halbiert haben, so diese nicht ohnehin an beiden Unternehmen substantiell beteiligt sind.

Wer in einer künftigen NYSE/DB-Allianz aber das Sagen hat, dürfte dann auch weniger davon abhängen, wie die Anteile im Zuge der Fusion zwischen den Altaktionären verteilt werden (die Rede ist von 60 zu 40 zugunsten der DB), sondern davon, welche Aktionäre oder Aktionärsgruppen künftig über ausreichend Stimmrechte verfügen, um sich in den Gremien Gehör zu verschaffen. Hier sieht es für finanzielle Weltmachtambitionen Deutschlands ohnehin schlecht aus, da sich von den DB-Aktien längst nur noch 17 % in deutschen Händen befinden, 41 % jedoch den USA und 23 % Großbritannien zugerechnet werden. Denn nachdem 2004 mit der Deutschen Bank der letzte strategische Aktionär aus der DB ausgestiegen war, wird deren Kapital zu 96% von institutionellen Investoren gehalten, so dass seither vor allem angloamerikanische Fonds wie z.B. Fidelity die DB kontrollieren.

Wie lange sich Deutsche-Börse-Chef Reto Francioni als Chairman dann wird halten und durchsetzen können, hängt künftig also ausschließlich von seinem Wohlverhalten gegenüber den angloamerikanischen Fondsmanagern ab, und deren Neigung, wesentliche Geschäftsbereiche außerhalb von New York anzusiedeln, dürfte überschaubar bleiben.

Das Börsengeschäft geht auf die Banken über

Der aktuelle NYSE-Chef Duncan Niederauer, der als CEO künftig die operative Führung des fusionierten Unternehmens übernehmen soll, dürfte indes weniger mit symbolischen als mit realen Schwierigkeiten konfrontiert sein. Immerhin stellt sich auch die Frage, ob die Wall Street hier nicht gerade ein sterbendes Geschäftsmodell verhökert. Denn wie etwa der Chef von Interactive Brokers Thomas Peterffy ("Internalisierung" des Handels als wichtigste Voraussetzung der Finanzmarktkrise) moniert, wird der Aktienhandel seit 20 Jahren immer mehr "internalisiert" und wandert von regulierten Börsen zu den unregulierten internen Marktplätzen der mächtigsten Banken, wie etwa den so genannten Black Pools.

Indem die Banken das Börsengeschäft an sich ziehen, schaffen sie es, unbemerkt mehr an ihren Kunden zu verdienen, als die üblichen Kommissionen, was diese Internalisierung offenbar unwiderstehlich macht. Denn wenn der Handel über eine Börse abgewickelt wird, erfährt der Kunde, zu welchem Kurs sein Trade von der Börse tatsächlich durchgeführt wurde. Hat die Bank diesen Handel jedoch internalisiert, kann sie dem Kunden zusätzlich zu ihren Spesen auch noch einen schlechteren Preis verrechnen, als sie selbst bezahlt hat, und einen zusätzlichen Spread verdienen – und das wird offenbar routinemäßig gemacht.

Aber auch der Terminhandel, der von NYSE/DB stets als wichtigste künftige Ertragsquelle genannt wird, kommt verstärkt unter Druck. Denn die Hochfrequenz-Trader, die computergesteuert innerhalb von Millisekunden tausende Trades abfeuern, sind den Brokern und Marktetmakern offenbar stets einen Schritt voraus und nehmen ihnen die Gewinne ab. Wird der Börsenhandel für die Broker aber unprofitabel, werden sie ihn einstellen, so dass auch in diesem Hoffnungsgebiet mittelfristig mit Problemen zu rechnen ist.

Ohne Regulierung wird die NYSE zur leeren Hülle

Was den traditionellen Börsen nun helfen würde, wären strenge Regulierungsmaßnahmen bzw. eine Revolte der Kunden, die den Handel wieder zurück zu den traditionellen und vergleichsweise transparenten Handelsplätzen brächte. Eine derartige Regulierung müsste allerdings von den USA ausgehen, und dort hat man es zuletzt nicht einmal geschafft, den extrem intransparenten Handel mit Kreditderivaten ernsthaft zu regulieren. Gescheitert ist es offenbar an der enormen Lobbymacht der großen Banken, die sich wohl auch im Aktienhandel ihre kleinen Extras nicht so schnell werden nehmen lassen.

Ohne entsprechende Regulierung droht die NYSE aber zur leeren Hülle zu werden – ein Trend, der sich bereits deutlich in den Geschäftszahlen widerspiegelt. So ging der Umsatz im Vorjahr um sechs Prozent auf 4,43 Milliarden Dollar zurück und der Börsenkurs grundelt seit dem Crash von 2008 bei einem Drittel der Höchststände von 2007 herum, ohne den allgemeinen Kursaufschwung mitzumachen. Demgegenüber hat die Deutsche Börse inzwischen immerhin wieder rund die Hälfte ihres Höchstkurses erreicht, was die Übernahme jetzt überhaupt erst möglich macht.

Dass Frankfurt dadurch als internationales Finanzzentrum aber wesentlich aufgewertet würde, dürfte auszuschließen sein. Das zeigt auch das Beispiel der Übernahme der "Euronext", einem von der Pariser Börse geführten Zusammenschlusses mehrerer europäischer Marktplätze, die als Fusion unter Gleichen angepriesen worden war und von der sich Paris eine erhebliche Aufwertung als Finanzplatz erhofft hatte. Inzwischen wurden große Teile des von Paris erhofften Geschäfts in London konzentriert und es geschieht nur noch das, was das NYSE-Topmanagement mit den überwiegend in New York angesiedelten Fondsmanagern aushandeln.

An der Wall Street dürfte bislang jedenfalls die Meinung vorherrschen, dass kaum so bald mit einer regulationsbedingten Auferstehung der klassischen Börsen zu rechnen sei. Zumindest haben sich bislang noch keine Finanzinvestoren gefunden, die darauf spekulieren wollen, dass die derzeit offenbar billige NYSE nach einem regulativen Zurückdrängen der "Internalisierung" wieder deutlich profitabler werden könnte.

Strategische Interessen werden indes den nach der NYSE größten US-amerikanische Börsen, der New Yorker Nasdaq OMX Group und der CME Group, dem Terminmarkt aus Chicago, nachgesagt, die sich inzwischen die künftige Übermacht der fusionierten Deutsche Börse/NYSE bewusst gemacht haben dürften. Sollte hier tatsächlich ein erfolgreiches Angebot gemacht werden, wäre das für den Finanzplatz Frankfurt vermutlich eine gute Nachricht.