Wirkt Narkose durch Kommunikationszusammenbruch oder geringe lokale Informationserzeugung?

Narkosemonitor. Bild: Kalumet/CC BY-SA-3.0

Gemeinhin wird angenommen, dass Narkosemittel die Signalübertragung zwischen Gehirnarealen unterbrechen und so das Bewusstsein ausschalten, aber es könnte auch ein anderer Grund sein

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Eine Narkose bei medizinischen Eingriffen zu erhalten, ist ein Segen. Sie wurde erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Während früher bei chirurgischen Operationen die Patienten festgebunden werden mussten, weil die Schmerzen von Alkohol oder irgendwelchen Pflanzenextrakten nicht ausgeschaltet werden konnten, haben Lachgas, Äther oder Morphium als Vorläufer der Vielzahl von modernen Anästhetika die Möglichkeiten der medizinischen Eingriffe und damit die Behandlung der Patienten massiv erweitert. Narkose schaltet das Bewusstsein und die Schmerzempfindung aus, zudem wird mitunter zusätzlich mit Wirkstoffen der Muskelrelaxation Bewegung verhindert. Die Atmung muss sichergestellt werden.

Man geht davon aus, dass Narkosesubstanzen auf das zentrale Nervensystem einwirken. Was aber genau geschieht, dass sowohl Bewusstsein als auch Schmerzempfindlichkeit ausgeschaltet werden, so dass der Narkotisierte auch durch Eingriffe, die starke Schmerzen verursachen, nicht aufwacht und keine Erinnerung daran hat, ist nicht wirklich geklärt. Ganz selten kommt es trotz Narkose zu Wachzuständen, bei denen Patienten Schmerzen empfinden, etwas wahrnehmen und erinnern können.

Die vorherrschende Theorie ist, dass Narkosemittel die Signalübertragung zwischen Gehirnarealen (Transferentropie) hemmen, wodurch das Bewusstsein lahmgelegt wird. Aber da nicht klar ist, was Bewusstsein ist und wie es entsteht, gibt es auch nur Spekulationen, warum Narkosemittel Bewusst-, Schmerz-, Erinnerungs- und Bewegungslosigkeit herstellen.

Neurowissenschaftler der Goethe-Universität und des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation haben, wie sie in ihrem Beitrag für PLOS Computational Biology berichten, eine neue Erklärung gefunden. Das Bewusstsein wird nicht ausgeschaltet, weil die Kommunikation zwischen Arealen gewissermaßen durch Zensur geschwächt oder unterdrückt wird, sondern weil in bestimmten Arealen weniger Signale produziert werden. Die geringere Signalübertragung, die bislang erfasst wurde, würde mithin nicht auf eine Störung der Kommunikation verweisen, sondern auf einen Mangel an erzeugten Information. Gibt es nicht genug Information, so die These, kann auch Bewusstsein nicht entstehen, was auch Schmerz unterdrückt.

Letztlich würde also die Aktivität von Hirnarealen herabgesetzt, die zum Schlafen gebracht werden, weswegen Gehirnareale, die Signale als Schmerz interpretieren, dafür nicht mehr genügend Daten hätten. Warum aber werden die "Quellareale" nicht einmal durch heftige Schmerzen aufgeweckt? Und auch nicht, wenn die Atmung aufhört? Und warum wird Schmerz, ein, wie man meinen sollte, biologisches Urerlebnis, nicht mehr empfunden, wenn das Bewusstsein ausfällt und die Kommunikation zwischen Arealen eingeschränkt ist?

Die Wissenschaftler untersuchten bei zwei Frettchen, die mit Isofluran narkotisiert wurden, die lokalen Feldpotenziale der neuronalen Erregungen in den "Quellarealen" des präfrontalen Cortex (PVC ) zum primären visuellen Cortexareal V1. Im Unterschied zum Wachzustand war der Signalaustausch zwischen PVC und V1 geringer, aber von PVC als einem Quellareal zu V1 als einem Zielareal noch deutlich weniger, der Top-down-Informationsfluss nimmt also ab. "Dies deutet darauf hin, dass die in der Quelle verfügbare Information den Informationstransfer bestimmt und nicht eine gestörte Signalübertragung", sagen die Autoren.

Isofluran unterdrückt bestimmte Rezeptoren, aber nicht AMPA- und NMDA-Synapsen, die für übergreifende Kommunikation entscheidend sind. Nach Ansicht der Wissenschaftler wäre also nicht eine Zensur oder eine Störung der Kommunikation für die Narkosewirkung der Bewusstseinsausschaltung verantwortlich, sondern schlicht die Einschläferung der Aktivität von primären Arealen, die kaum mehr Signale produzieren. Das würde auch dazu passen, dass elektrophysiologisch Anästhesie zu einheitlicherem Signalverhalten mit sich wiederholenden Mustern führt, die durch plötzliche Aktivität unterbrochen werden.

Führt die Störung des Top-Down-Informationsflusses zur Abschaltung des Bewusstseins?

Warum gerade die Aktivität des Präfrontalen Kortex und von V1 untersucht wurden, geht aus der Studie nicht hervor. Wenn nicht die Kommunikation oder die Informationsübertragung, sondern die Datenproduktion für Bewusstsein bzw. Schmerzempfindung entscheidend ist, dann könnte die Störung des Top-Down-Informationsflusses durch zu geringe Signalproduktion zur Abschaltung des Bewusstseins führen.

Die Autoren weisen auf das Predictive-Coding-Modell hin, dass Bewusstsein informationstheoretisch permanent Hypothesen über die Welt erzeugt und aktualisiert, die sensorischen Input auf verschiedenen Ebenen vorhersagen. Nach dem Predictive-Coding-Modell könnte eine Störung der Top-down-Informationsübertagung die Verbreitung von Vorhersagen an hierarchisch niedere Areale zum Scheitern bringen. Die Abnahme lokal verfügbarer Information und der Entropie im Präfrontalen Kortex könnte aber auch die Integration von Information in einem Areal verhindern, das entscheidend ist für die Erzeugung eines kohärenten Modells der Welt und der damit verbundenen Vorhersagen. Können Vorhersagen nicht mehr gemacht werden, so die These, erlischt das Bewusstsein.

Würde man den Ansatz auf gesellschaftliche Ebene übertragen, wäre er womöglich nicht so uninteressant. Gesellschaftliches Bewusstsein, das nicht mehr so einfach durch Zensur und andere Maßnahmen unterdrückt werden könnte, entstünde eben durch die Aktivität der Gesellschaftsmitglieder, die sich äußern. Ziehen sie sich zurück und schweigen sie öffentlich, schwindet der gesellschaftliche Schmerz oder findet eine Narkotisierung statt, ohne dass von oben direkt eingegriffen werden muss.