Wirtschaftssanktionen: Ein fragwürdiges Mittel, das Leben kostet

Seite 4: Westliche Rechtfertigungen

Dem wird im Westen natürlich vehement widersprochen. Westliche Völkerrechtler gehen sogar so weit, zu behaupten, dass im Gegenteil, die langjährige umfangreiche Anwendung eigenmächtiger Maßnahmen diese bereits gewohnheitsrechtlich legitimiere, während die von Sanktionsgegnern ins Feld geführte Normen, wie der Grundsatz der Nichteinmischung, durch die Praxis vieler Staaten schon so erheblich ausgehöhlt seien, dass sie gewohnheitsrechtlich nicht mehr relevant wären.13 Das würde bedeuten, dass dominierende Mächte Normen allein dadurch unwirksam machen könnten, dass sie sie häufig brechen.

Die USA erkennen natürlich die Resolutionen gegen Zwangsmaßnahmen nicht an. Sie erklären sie schlicht für irrelevant, da sie das souveräne Recht der Staaten infrage stellen würden, ihre Wirtschaftsbeziehungen frei zu gestalten und legitime nationale Interessen zu schützen." "Unilaterale Sanktionen" seien ein "legitimes Mittel", um "außenpolitische, sicherheitspolitische und andere nationale und internationale Ziele zu erreichen".

Die EU-Staaten teilen weitgehend diesen Standpunkt. Auch sie beharren darauf, dass von einem völkerrechtswidrigen, unter das Interventionsverbot fallenden Zwang überhaupt keine Rede sein könne, da es schließlich jedem Land freistehe, zu entscheiden, mit wem es wie viel Handel treiben möchte.

Diese plumpe Argumentation halten jedoch auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages für nicht haltbar. Sie stellen klar, dass unilaterale Zwangsmaßnahmen als "extreme Formen der Druckausübung" gelten und unter das Interventionsverbot fallen, sobald sie "die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten", indem sie vitale Staatsinteressen berühren und den sanktionierten Staat in der Ausübung seiner Souveränität spürbar behindern.

Das ist bei den westlichen Embargos, angesichts des enormen wirtschaftlichen Erpressungspotentials, über das die USA und die alten Kolonialmächte verfügen, sicher der Fall. Um den Auswüchsen der westlichen Wirtschaftsblocken mehr entgegensetzen zu können, hat der UN-Menschenrechtsrat 2014 das Amt eines "Sonderberichterstatters über negative Auswirkungen unilateraler Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung von Menschenrechten" geschaffen.

Der erste Berichterstatter, erwähnte algerische Menschenrechtler Idriss Jazairy und seine Nachfolgerin Alena Douhan legen seither regelmäßig ausführliche, gut recherchierte Berichte über die Auswirkungen vor, wie auch fundierte völkerrechtliche Bewertungen.

Die aktuelle Sonderberichterstatterin Alena Douhan geht davon aus, "dass etwa 98 Prozent der heute verhängten einseitigen Sanktionen gegen die internationalen Verpflichtungen der Staaten verstoßen." Obwohl sie "meist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt" würden, würden sie, so betonte sie in einem Interview mit der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, "genau diese Grundsätze, Werte und Normen untergraben".

Insbesondere die von den USA auf Grundlage willkürlicher Notstandserklärungen verhängten Maßnahmen, so die Völkerrechtsexpertin würden, "eine breite Palette von Menschenrechten in China, Kuba, Haiti, Iran, Nicaragua, der Russischen Föderation, Syrien, Venezuela, Simbabwe und anderen Ländern auf der ganzen Welt" verletzen.

Vor dem Hintergrund ist klar, dass viele Länder schon seit langem helfen, Wirtschaftsblockaden zu umgehen und dabei auch in den letzten Jahren zunehmend offensiver vorgingen. Mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland gab es in dieser Beziehung jedoch einen regelrechten Schub, der nicht nur Russland zugutekommt, sondern z.B. auch dem Iran und perspektivisch Syrien.

Iran: wachsende Kooperationen mit dem Osten

Tatsächlich konnte der Iran seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in letzter Zeit stark ausbauen, zum einen durch engere Kooperation mit Russland, vor allem aber durch den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit asiatischen Staaten. China ist mittlerweile der mit Abstand größte Handelspartner und dessen oft als "neue Seidenstraße" bezeichnete "Belt and Road Initiative" spielt der Iran schon aufgrund seiner Lage eine zentrale Rolle.

Zudem haben beide Staaten langfristiges Kooperationsabkommen geschlossen, das chinesische Investitionen im Wert von 400 Milliarden Dollar vorsieht – gegen Erdöl-Lieferungen zu Vorzugspreisen.

Neben China hat auch Indien begonnen, den Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der islamischen Republik wieder auszuweiten, vor allem durch größere Ölimporte, aber auch durch den Handel mit anderen Produkten. Abgerechnet wird nun dabei nicht mehr in Dollar, sondern in Rupien.

Südkorea will ebenfalls den Ölimport aus dem Iran wieder aufnehmen. Da auch andere Staaten vermehrt iranisches Öl kaufen, haben sich die iranischen Rohölexporte seit dem Herbst letzten Jahres verdoppelt.

Zudem baut der Iran in Kooperation mit Russland, Indien, China und seinen anderen Nachbarn große Transportkorridore über sein Territorium aus, zusätzlich zu denen in Ost-West-Richtung im Rahmen der Neue Seidenstraße auch quer dazu in Nord-Süd-Richtung. Sie sollen sukzessive attraktive Alternativen zu bisherigen Transportwegen, wie dem Suezkanal schaffen ‒ Alternativen, auf die der Westen keinen Einfluss hat. Der Iran integriert sich auf diese Weise immer stärker in die Region und wird zu einem zentralen Verkehrsknotenpunkt.

Diese Integration in Asien konnte Teheran schließlich mit der Vollmitgliedschaft in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) institutionalisieren, dem bedeutendsten sicherheits- und wirtschaftspolitischen Bündnis des Ostens. Und schließlich wird die iranische Position gegenüber dem Westen natürlich auch durch die Aufnahme in die Staatengemeinschaft Brics (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) entscheidend gestärkt.

Beide Bündnisse erkennen einseitige Zwangsmaßnahmen grundsätzlich nicht an. Und von großer Bedeutung war natürlich die zuletzt von China zum Abschluss gebrachte Entspannung zwischen Riad und Teheran, die den Weg zu einer gleichzeitigen Mitgliedschaft der beiden Länder in der SCO und Brics freigemacht hat.

Der Iran spielt so eine zunehmend gewichtigere Rolle im Umbruch in eine multipolare Welt, während die EU-Staaten und besonders Deutschland sich mit dem dauerhaften Verlust lukrativer Geschäfte im Iran abfinden müssen.

Die Iran-Kennerin Charlotte Wiedemann fasste dies einmal so zusammen14:

Wenn Iran seinen regionalen Kontrahenten heute als gefährlich stark erscheint, spiegelt sich darin der Niedergang der USA ebenso, wie die iranische Fähigkeit, sich westlicher Einflussnahme seit 1979 entzogen zu haben.

Syrien überwindet Isolation

Im Zuge der Entspannung zwischen Iran und Saudi-Arabien konnte auch Syrien sein Verhältnis mit den Staaten der Region entscheidend verbessern. Das verheerende Erdbeben Anfang Februar beschleunige die Entwicklung.

Während EU und USA auch angesichts der Naturkatastrophe am Wirtschaftskrieg festhielten, leisteten die arabischen Golfstaaten, die bisher die islamistischen Milizen gegen Damaskus finanziert und ausgerüstet hatten umfangreiche finanzielle, materielle und personelle Hilfe. Es kam zu zahlreichen Treffen auf hoher Regierungsebene und im Mai zur Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga.

Auch Saudi-Arabien stellte die elf Jahre zuvor abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder vollständig her und Syrien ist bei regionalen und internationalen Treffen immer häufiger wieder dabei. Die vom Westen betriebene Isolation zerbröckelt.

Der syrische Präsident Assad konnte bei einem Treffen mit seinem chinesischen Kollegen eine strategische Partnerschaft und zahlreiche Abkommen vereinbaren. Chinas Projekt der "Neuen Seidenstraße" und der Beitritt des Irans zum Brics-Bündnis, gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, werden nun auch für Syrien die Handelsmöglichkeiten mit den Staaten der Region erweitern ‒ an den mit dem US-Dollar und Euro verbundenen Blockaden vorbei.

Doch wird eine Verbesserung der wirtschaftlichen und soziale Verhältnisse diese Entwicklung weiterhin massiv durch die Wirtschaftsblockaden der USA und der EU sowie die fortgesetzte Besetzung syrischer Gebiete ausgebremst ‒ im Norden durch die Türkei, im Nordosten durch die USA und in Idlib durch vom Westen geförderte dschihadistische Milizen.

Westen beim Russland-Boykott isoliert

Dass der Wirtschaftskrieg gegen Russland gründlich nach hinten losging, ist mittlerweile allgemein bekannt. Wirtschaftsblockaden gegen ein derart großes, ressourcenreiches und politisch bedeutendes Land, wie Russland zu verhängen, waren nüchtern betrachtet von vorneherein nicht aussichtsreich.

Sie waren endgültig zum Scheitern verurteilt, als sich abzeichnete, dass die meisten Staaten dem Westen nicht nur aus wirtschaftlichem Interesse die Gefolgschaft verweigerten, sondern den Wirtschaftskrieg auch politisch ablehnten.

So blieben die Nato-Staaten in ihren Bemühungen ziemlich isoliert. Letztlich beteiligen sich nur fünf Staaten außerhalb der Nato und der EU mehr oder weniger aktiv: Australien, Japan, Neuseeland, Schweiz und Südkorea.

Die übrigen Staaten führen ihre Zusammenarbeit mit Russland nicht nur fort, sondern haben sie zum Teil sogar noch intensiviert. Nicht nur China kauft russisches Öl und Gas in Rekordmengen, sondern auch zahlreiche andere Länder ‒ natürlich begünstigt durch Rabatte von bis zu 30 Prozent, die Moskau gewährt.

Auch Indien hat z.B. seine Ölimporte aus Russland vervielfacht. Russland konnte im März 2023 so viel Erdöl exportieren wie seit drei Jahren nicht mehr. Häufig werden Erdöl und Derivate, wie Diesel, zum Weiterkauf in andere Länder einfach umdeklariert.

Etliche asiatische Länder, darunter auch die Türkei, machen damit blendende Geschäfte. Selbst Saudi-Arabien hat den Import von Heizöl und Diesel für den Eigenverbrauch verzehnfacht und exportiert die so freigewordenen Kraftstoffe wesentlich teurer nach Europa.

Aber auch die EU importiert, wie die Financial Times im August berichtete, russisches Gas in Rekordmengen, das meiste nun nicht mehr kostengünstig und umweltschonend über Pipelines, sondern mit Tankern als Flüssiggas. Belgien und Spanien kamen nach China auf den Plätzen zwei und drei. Ebenfalls so viel wie noch nie fließt russisches Erdgas nach Südosteuropa, durch die TurkStream-Pipeline über das Schwarze Meer und die Türkei.

Umgekehrt floriert auch der russische Import, indem unter Embargo stehende Waren über Nachbarländer importiert werden, wodurch die Liefermengen dorthin in dem Maße zunahmen, wie sie nach Russland sanken. Zunehmend wurden westliche Güter auch durch asiatische ersetzt.

Das schon zuvor beträchtliche russische Handelsvolumen mit China legte nach Berechnungen der New York Times bis Oktober 2022 bereits um 64 Prozent zu, das mit Brasilien verdoppelte sich und das mit Indien stieg auf mehr als das Vierfache. Insgesamt vollzieht sich so seit letztem Jahr im Rekordtempo ein gravierender Umbruch im Welthandel.

Da parallel auch die Eigenproduktion angekurbelt wurde, macht die russische Wirtschaft, wie der Wirtschaftsinformationsdienst Bloomberg bereits im August meldete, beeindruckende Fortschritte und sei bald wieder auf dem Vorkriegsniveau.15 Insgesamt konnte Russland 2023 bei geringerem Handelsvolumen höhere monatliche Einnahmen erzielen als vor 2021.

Auch der IWF bescheinigt Russland eine recht stabile finanzielle Situation, mit einer niedrigen öffentlichen Verschuldung und hohen Leistungsbilanzüberschüssen. Mittelfristig erwartet er eine durch das Embargo gedämpfte Entwicklung, aber durchaus noch ein bescheidenes Wachstum. Seine Prognose für das russische Wirtschaftswachstum in diesem Jahr hat er nun auf 2,2 Prozent erhöht, während er die BRD mit minus 0,5 Prozent zum Schlusslicht unter den großen Volkswirtschaften erklärt und damit zum größten Verlierer des Wirtschaftskrieges.16

Bumerangeffekte

Wenn auch nicht so stark, wie das der größten Volkswirtschaft in der EU, brach auch das Wirtschaftswachstum der anderen Mitgliedsstaaten infolge ihrer Boykottbemühungen ein. Was sie für schweres Geschütz gegen die russische Wirtschaft hielten, feuert mit voller Wucht zurück und gefährdet ihre eigene wirtschaftliche Stabilität.

Hauptursache ist der drastische Anstieg der Energiekosten, insbesondere in Deutschland, das sich bisher zu einem sehr hohen Anteil mit günstigem russischem Erdgas über Pipelines versorgte. Darauf beruhte das Erfolgsrezept der sehr stark exportorientierten deutschen Wirtschaft.

Die hohen Energiepreise werden zwar als Grund für die die Wirtschaftskrise genannt. Politik und Medien bemühen sich aber krampfhaft die Hauptursache dafür, den Boykott von russischem Öl- und Gas auszublenden. Die Preissteigerungen werden schlicht auf den "russischen Angriffskrieg" zurückgeführt.

Dabei hat die Bundesregierung so rigoros wie kaum ein anderes Land den direkten Import aus Russland gedrosselt, lange bevor ihr die eigenen engen Verbündeten mit der Sprengung der Nordstream-Pipelines in ihren Boykottbemühungen tatkräftig unter die Arme griffen.

Erklärtes Ziel war es, das russische Gas schnellstmöglich durch Flüssiggas zu ersetzen, ohne Rücksicht auf die Kosten und die Umwelt wurden Flüssiggasterminals in Auftrag gegeben.17

Der Wirtschaftskrieg ist der "Elefant im Raum", den selbst die Führungen der Linkspartei und der Gewerkschaften nicht thematisieren wollen, wohl um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die antirussische Front zu schwächen. Doch das Angebot Moskaus steht, Gaslieferungen über die intakt gebliebene Röhre von Nordstream 2 zu liefern, der russische Präsident hat es erst kürzlich erneuert.

Nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg belief sich die Belastung der EU-Staaten durch die steigenden Energiekosten bereits im Dezember 2022 auf rund eine Billion US-Dollar.

Der deutsche Staat gab 2022 zur Abfederung der Folgen des Boykotts von russischem Öl- und Gas 440 Milliarden Euro aus, konnte damit aber weder die Belastung der Bevölkerung, vor allem die ärmeren, ausgleichen noch den wirtschaftlichen Niedergang verhindern.

De-Dollarisierung, Swift-Alternativen

Wenn immer häufiger Devisenreserven von Ländern, mit denen Washington im Clinch liegt, eingefroren und ihre Banken vom Zahlungsverkehr ausgeschlossen werden, kann sich natürlich kein Land mehr sicher davor fühlen.

Der Widerstand gegen westliche und vor allem US-amerikanische Zwangsmaßnahmen und das Bemühen sich vor ihnen zu schützen, geht daher einher mit Streben nach mehr wirtschaftlicher und finanzieller Unabhängigkeit von den USA und der EU.

Vor allem arbeiten nun viele Länder mit Nachdruck daran, sich vom Dollar und dem US-dominierten internationalen Finanzsystem, den zentralen Hebeln des US-Sanktionsregimes, wirksam abzukoppeln – naheliegenderweise gemeinsam mit China und Russland.

So wird nicht nur zunehmend der Handel an den westlichen Blockaden vorbeigetrieben, sondern seine Abrechnung gleichzeitig auch auf lokale Währungen umgestellt. Viele Länder bauen zudem eine Infrastruktur dafür auf, ihren Handel generell in anderen Währungen als Dollar und Euro abwickeln zu können.

Am weitesten ist dabei natürlich China, das mittlerweile schon rund 50 Prozent seines Außenhandels in seiner eigenen Währung abwickelt. 18 Deren Anteil bei weltweiten Geschäften hat sich seit dem russischen Einmarsch von weniger als zwei Prozent auf 4,5 Prozent im Februar dieses Jahres mehr als verdoppelt. Er liegt damit nicht mehr weit unter dem des Euro, der einen Anteil von sechs Prozent am Gesamtmarkt hat.

Indien baut ebenfalls beschleunigt die eigene Landeswährung Rupie zu einer internationalen Handelswährung und Alternative zum US-Dollar auf. Auch die Gemeinschaft südostasiatischer Staaten ("Asean") hat beschlossen, ein "Lokalwährungs-Transaktions-System" zu schaffen, dass es den zehn Asean-Ländern ermöglichen wird, die Handelsgeschäfte untereinander direkt in den eigenen Währungen abzuwickeln.

Und in Lateinamerika werden die seit langem gehegten Pläne einer gemeinsamen Regionalwährung wiederbelebt. Vor allem der brasilianische Präsident Lula da Silva drängt seit seiner Wiederwahl darauf.19

Es wird zwar auch häufig über eine Brics-Währung gesprochen, auf der Tagesordnung steht ein solch komplexes Unterfangen aber bisher nicht. Das Brics-Bündnis will jedoch über seine Neuen Entwicklungsbank (New Development Bank, NDB) den Aufbau eines entdollarisierten Handelssystems vorantreiben.

Diese multilaterale Entwicklungsbank soll dem Globalen Süden als Alternative zu IWF und Weltbank dienen. Sie steht auch anderen Ländern offen und kann zukünftig auch denen helfen, die durch Finanzblockaden vom US-dominierten Finanzsystem ausgeschlossen sind.

Noch hat der US-Dollar mit Abstand den größten Anteil am Welthandel und an den Devisenreserven. Doch wird seine Dominanz zunehmend infrage gestellt. Hatte der US-Dollar 1977 einen Anteil von 85 Prozent bei den Devisenreserven und 2001 noch von 73 Prozent, so betrug er letztes Jahr nur noch 58 Prozent und sank bis April dieses Jahres auf 47 Prozent.

D.h. die Umbrüche, die im letzten Jahr einsetzten, haben einen Einbruch um elf Prozentpunkte verursacht. Noch stärker brach die Nutzung des Euro bei weltweiten Geschäften ein. Sein Anteil bei Swift-Transaktionen etwa sank seit letztem Jahr von 38 auf 24 Prozent.

Parallel dazu arbeiten vielen Staaten und Bündnisse auch an Alternativen zum US-kontrollierten Finanzsystem ‒ von Kreditkarten bis zum internationalen Finanzkommunikationsnetzwerk Swift. Russland hat bereits 2014 ein eigenes Transfersystem, SPFS (System for Transfer of Financial Messages), etabliert, sowie ein nationales Zahlungssystem, inklusive Kreditkarte namens Mir. Im Januar wurde es mit dem iranischen Finanzkommunikationssystem Sepam zusammengeschlossen.

Wesentlich leistungsfähiger ist Chinas "Grenzüberschreitendes Interbankenzahlungssystem" (Cross-Border Interbank Payment System, Cips), das im Juni 2023 bereits über 1.450 Teilnehmer aus 111 Ländern zählte, die darüber Geschäfte mit mehr als 4.200 Bankinstituten in 182 Ländern abwickelten.

Es ist kein rein chinesisches Projekt, zu den Mitbegründern gehören auch einige westliche Banken, wie die Citibank, die Deutsche Bank und HSBC. Daher war Cips von Beginn an international breiter verankert. Von Swift, das von 11.000 Finanzinstituten in 200 Ländern genutzt wird, ist das chinesische System noch ein gutes Stück entfernt, kann aber durchaus schon als echte Alternative fungieren.

Auch die neun Mitgliedsländer der Asiatischen Clearing Union (ACU), zu denen u.a. Indien, Pakistan und der Iran zählen, planen ein eigenes grenzüberschreitendes Finanzkommunikationssystem aufzubauen. Bis dahin wollen sie das iranische Sepam nutzen.

Neue Blockbildung und Festigung einer multipolaren Welt

Das sind nur einige Beispiele für die zunehmend engere Kooperation der Länder im Globalen Süden, für die die westlichen Wirtschaftskriege wie Katalysatoren wirken. Sie zwingen viele Länder zur Kooperation, da sie die reale Gefahr sehen, selbst direkt davon betroffen zu werden oder weil sie den Erpressungen durch "Sekundärsanktionen" entgehen wollen, die ihre Souveränität einschränkt und ihnen wirtschaftlich schadet.

Die Welt hat sich neu aufgeteilt. Während sich nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine der politischen Westen enger zusammenschloss ‒ gegen Russland aber zunehmend auch gegen China ‒, erstarkten im Süden Blöcke, die sich gegen dessen Dominanzstreben richten und in denen Russland und China eine zentrale Rolle spielen.

Vor allem das Brics-Bündnis bekam enorme Bedeutung und Anziehungskraft. Es hat sechs weitere Mitglieder aufgenommen und umfasst nun rund 46 Prozent der Weltbevölkerung und die größten Ölproduzenten der Welt neben den USA. Zahlreiche weitere Staaten haben eine Mitgliedschaft beantragt oder Interesse daran bekundet.

Selbstverständlich läuft die Entwicklung angesichts der gravierenden Unterschiede und diverse Rivalitäten zwischen den Ländern alles andere als reibungslos und gradlinig.

Nach wie vor verfolgen alle in erster Linie nationale Interessen und auch wenn sich die meisten Länder an den Bemühungen für eine multipolare Ordnung beteiligen, sind viele weiterhin an guten Beziehungen zu den westlichen Staaten interessiert und so auch immer wieder zu Zugeständnissen bereit, die dieser Entwicklung entgegenstehen, wie auch die Groß- oder Regionalmachtambitionen großer aufstrebender Staaten, wie z.B. Indien.

Aber offensichtlich verschieben sich die Gewichte ‒ politisch wie wirtschaftlich ‒ rasant und eröffnen Spielräume für positive Entwicklungen, noch verstärkt durch den allgemeinen Niedergang der ökonomischen Dominanz der USA und ihrer Verbündeten.

Die Zunahme wirtschaftlicher Alternativen für Außenhandel und ausländischen Investitionen bieten vielen Ländern des Globalen Südens Wege, den neokolonialen Extraktivismus, d.h. die Beschränkung auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen zum Nutzen globaler Firmen, zu überwinden.

Es ist ein Prozess der weiteren Entkolonisierung, der einhergeht mit einem neuen selbstbewussten Eintreten der Länder für ihre Souveränität, sichtbar z.B. in der Abkehr der Sahel-Staaten von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich.

Unter den Regierungen, die sich gegen die westliche Dominanz wenden, sind bekanntlich auch viele, die ansonsten alles andere als fortschrittlich sind. Die Friedensinitiativen aus dem Globalen Süden bzgl. der Kriege in der Ukraine und Palästina, die Verständigung zwischen Saudi-Arabien und Iran und andere Bemühungen, Konflikte auf dem Verhandlungswege zu lösen, lassen aber auch auf ein gewisses friedenspolitisches Potenzial des Multilateralismus hoffen.

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