Wissen und Handeln

Warum eine Schlagzeile alte Nachrichten neu erscheinen lässt

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Am Freitag vor dem Jahreswechsel 2012 überraschte die renommierte Süddeutsche Zeitung ihre Leser mit der Schlagzeile "Bundesregierung schönt Arbeitslosenstatistik" Im Artikel ging es um jene Arbeitslosen älter als 58 Jahre, die zwar bei der Bundesagentur für Arbeit registriert sind, aber in der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt werden. Dieser Sachverhalt wurde als Meldung von den Nachrichtenagenturen übernommen und in diversen Medien weitergegeben. Allerdings: Die Nachricht hatte denselben Neuigkeitswert wie der Satz: Der Mond kreist um die Erde. Und: Der Fall ist ein Beispiel dafür, dass Wissen letztlich nur im Handeln vorliegt.

Dass Hartz IV-Bezieher, die älter als 58 Jahre sind und seit zwölf Monaten kein Jobangebot bekommen haben, aus der Arbeitslosenstatistik ausgemustert werden, ist seit 2008 bekannt. Und bis dahin galt seit 2005 bereits die sogenannte 58er-Regelung, bei der man bis zum Rentenalter Leistungen von der Arbeitsagentur erhielt, ohne dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu müssen.

Neu ist auch nicht, dass die Statistiken geschönt werden. Dies geschieht mehr oder weniger regelmäßig und die letzte derartige Maßnahme betraf jene Arbeitslose, die sich in der Obhut privater Arbeitsvermittler befinden – auch sie werden seit 2009 in der Statistik nicht mitgezählt - immerhin rund 150.000 im November 2011. Hinzu kommen die Kranken, die Ein-Euro-Jobber, die in Bürgerarbeit und die in Weiterbildung, die alle nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Nichts wirklich Neues also in der Schlagzeile der Süddeutschen. Und trotzdem wanderte sie durch die Medienlandschaft.

Dies könnte man nun als eines der üblichen Phänomene der Presse abtun, wie etwa das Herbeischreiben von Kampagnen in den Boulevardmedien. Doch das Beispiel verweist auf ein Merkmal des zeitgenössischen Informations(über)flusses, das von Vertretern einer "Kommunikationsguerilla" so beschrieben wird: Anders als früher mangelt es in der heutigen Situation nicht mehr an Informationen, die über die gesellschaftlichen Tatbestände und Machtverhältnisse aufklären. Sondern es mangelt an Gelegenheiten, diese Informationen in Handlungen umzusetzen und so wirksam werden zu lassen. "Heute mangelt es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht an solchen Informationen, sondern das Hauptproblem ist deren absolute Folgenlosigkeit", beschreibt dies zum Beispiel die "Autonome a.f.r.i.k.a.gruppe" in ihrem "Handbuch der Kommunikationsguerilla"1.

Dahinter steht ein historischer Prozess, was sowohl das Informationsangebot als auch gesellschaftliche Oppositionsmöglichkeiten betrifft. So lässt sich die Zeit vor der digitalen und politischen Wende in den 1980er Jahren als eine Zeit des Informationsmangels beschreiben. Es gab, im Ganzen gesehen, eher zuwenig Informationen über Sachverhalte als zuviel. So lag die Zahl der Informationskanäle wesentlich niedriger als heute, im Fernsehen etwa waren nur drei oder vier Sender zu empfangen und auch dies nicht rund um die Uhr. Informationen lagen verstreut vor in Bibliotheken oder in den für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Archiven der Zeitungshäuser. Die Regionen des Ostblocks und kommunistischer Staaten wie China oder Vietnam unterlagen einer strengen Informationskontrolle, fremde entfernte Länder wie Guatemala waren auch hinsichtlich des Informationsflusses exotisch. Das Wissen über Zustände in Institutionen wie Altenheime war exklusiv. Und derlei kritisches Wissen war ein Treibmittel für eine Vielzahl von gesellschaftlichen Akteuren wie Bürgerinitiativen oder Parteien.

Heute hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Aus dem Informationsmangel wurde ein Informationsüberfluss. Beispielhaft dafür mag das Internetradio sein, mit dem man in der Küche über WLAN 10.000 Sender von allen Orten des Globus empfangen kann. Ähnliches gilt für das Fernsehen und natürlich auch für das Internet mit seinem quasi unerschöpflichen Informationsangebot. Doch das Problem ist, dass diese Informationen quasi haltlos im Raume treiben und keine Andockstelle mehr finden, wo sie durch soziale Bewegungen in Handlungen umgesetzt werden können. Es mangelt nicht mehr an kritischen Informationen über den Zustand unserer Gesellschaft, sondern an Handlungsmöglichkeiten, um diese Informationen auch zu nutzen.

Es gilt nach wie vor der Satz der alten Klassiker: "Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen."2 Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, die handeln. Die bloßen Vorstellungen über einen alternativen Gesellschaftszustand stören die von dem bestehenden Zustand Profitierenden insofern wenig, wenn sich diese Vorstellungen nicht mit der Praxis verbinden. Sind die Gedanken zwar frei, ihre Ausübung aber verhindert, dann bleibt es beim Räsonnement statt der Revolte.

So gewinnt die Information ihren Gehalt letztlich erst im Handeln, im Tun. Im Falle der Schlagzeile der Süddeutschen hatte dieses Tun die Form einer parlamentarischen Anfrage zur Arbeitslosenstatistik, gestellt von einem Bundestagsabgeordneten. Auf sie berief sich die Schlagzeile. Vorher lag die Information rund um die "58er-Regelung" zwar genau so zugänglich vor, doch fehlte ihr die Handlungsdimension. Erst durch diese gewann die Information an gesellschaftlicher Relevanz.