Wo Literatur schneller und kürzer wird

Aus alt mach neu: (Experimentelle) Literatur tummelt sich heute (auch) im World Wide Web

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Die Frage ist so alt wie der Begriff selbst: Was ist Literatur? Lyrik, Romane, Novellen, John-Sinclair-Heftchen oder experimentelle Wortspielereien, die der Autor Wochen nach der Niederschrift oder dem Anordnen selbst nicht mehr begreift? Logisch, dass sich mit jeder technischen Neuerung diese Frage aller Fragen wieder und wieder stellt. Sabrina Ortmann vom literarischen Salon Berliner Zimmer liefert mit dem Buch netz literatur projekt einige Antworten.

Schon in den 60er Jahren experimentierten Autoren mit elektronischen Medien. In der USA erlebte damals die Literatur den erweiterten Begriff der Beatliteratur. Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William S. Burroughs prägten etwas Neues, als Amerikas Bibliotheken "voller Tränen" waren (Ginsberg). Kerouac etwa spannte eine Papierrolle in seine Schreibmaschine, um seinen Schreibfluss nicht unnötig zu bremsen. Burroughs experimentierte mit der Cut-up-Methode, wobei er Manuskriptseiten von linear getippten Texten wieder zerteilte, sie versetzt aneinander montierte und erneut abtippte. Die neuen Texte, halbwegs redigiert, ergaben einen völlig anderen, oft kruden Sinn.

Man muss es nicht betonen, Drogen spielten hierbei eine Rolle. Ebenso die Kommunikation unter den Autoren. Der starre Literaturbegriff der Universitäten wurde gelockert. Alle sollten und konnten kreativ sein, Kettengedichte, Copy- bzw. Mail-Art-Projekte und literarische Briefwechsel endeten in selbst kopierten Heftchen – modernes Ambivalent: Print on Demand? – oder zwischen Buchdeckeln. 1968 schwappte der Beat mit der Studentenbewegung auch über nach Deutschland und Europa. Aber es gab auch auf den ersten Blick ungewöhnliche herkömmliche Romane, denen wohl nur noch das Internet fehlte. Etwa das Buch "Rayuella – Himmel und Hölle" von Julio Cortazar. Der Leser kann es linear lesen, oder er springt nach einem gewissen System zwischen den einzelnen Kapiteln und die Lektüre ergibt einen anderen Sinn.

Mail-Art-Aktionismus wurde durch Fax und Computer schneller. In den 80er Jahren erschienen erste Diskettenmags. Durch die Popularität des Internet wurde auch dieser Kommunikationsweg zum Spielball der Literaturszene. Dabei kamen sich Autor und Leser näher. Vor allem aber beschleunigte sich alles. Ein Kettengedicht wanderte per Email schneller hin und her, als es einst dauerte, den Brief zur Post zu tragen. Und dank Mailinglisten oder Newsgroups ergaben sich plötzlich hunderte Versionen desselben Textes. Ortmann spricht hier von "kollaborativen Netzliteraturprojekten". Und natürlich gab es plötzlich unzählige Homepages, auf denen Literatur publiziert wird, über die Verlage und Autoren für ihre Bücher werben, dazu kamen Online-Bibliotheken. Aber ist das alles Netz-Literatur? Ortmann unterscheidet hier:

"Literatur im Netz bedient sich des Internets also lediglich als Medium zur Veröffentlichung. Es handelt sich um traditionelle Texte, die auf Web-Seiten publiziert werden. Netzliteratur dagegen nutzt die Möglichkeiten eines Netzes und eventuell zusätzlich die des Computers als Stilmittel. Hierzu gehören vor allem die Möglichkeiten der Technik, der Interaktivität und der Kommunikation. (...) Die Netzliteratur grenzt sich wiederum ab von Hyperfiction, die sich nur durch die Verwendung von Links von herkömmlicher Literatur unterscheidet, und anderer Computerliteratur. Mit Computerliteratur ist hier solche Literatur gemeint, die ohne den Computer nicht existieren würde, die jedoch nicht das Internet benötigt, sondern auch auf Diskette oder CD-ROM veröffentlicht werden könnte (...)."

An drei Beispielen macht die Autorin deutlich, wie Netzliteratur funktionieren kann. Einmal ist es der Assoziations-Blaster, der erst durch das Internet richtig funktioniert, an Spontaneität und Schnelligkeit gewinnt und ein ständig sich wandelndes Schreib- und Lesevergnügen für Jedermann darstellen kann (Assoziations-Blaster ist offline). Zum Zweiten der Tagebau, ein Tagebuch, in das profilierte Autoren hineingeschrieben haben. Das Projekt verdeutlicht übrigens die Vergänglichkeit der Netzliteratur, denn nach einem Fehler in der Datenstruktur im August 2000 wurden weite Teile der Site gelöscht. Lediglich das, was Autoren oder Webmaster gesichert hatten, konnte rekonstruiert werden – da oftmals direkt in das Online-Redaktionssystem eingegeben wurde, war manches unwiderrufbar verschollen. Zum Dritten nennt Ortmann Die Säulen von Llacaan, ein Fantasy-Projekt, das ähnlich wie eine Romanserie von verschiedenen Autoren verfasst wird – obwohl sie gewisse Freiheiten haben, sind sie an einen Rahmen und Hauptcharaktere gebunden.

Literatur, die sich im Word Wide Web tummelt, ist also vielschichtig. Um es mit Günter Grass zu sagen: ein weites Feld. Die Autorin beackert dieses, vom ersten Meter an bis zum Hier und Jetzt (Ende 2000). Und sie weist darauf hin, dass die hehre Kunst des (deutschen) Feuilleton abermals den Begriff der Stümperei bemüht. Von "Pennälerdada" (Erhard Schütz) war auch schon die Rede. Schuld daran könnte sein, dass der "Autor" manchmal ein besserer Programmierer denn Texter ist und sich durch die Homepage von Jedermann – kein Lektor oder Redakteur verhindert Schlimmeres – und die (teilweise anonyme) Forennutzung ein erweiterter Literaturbegriff unterhalb der Kulturschmerzgrenze etablierte. Allerdings können gerade Foren für Autor und Leser nützlich sein.

Und Literatur im Netz respektive Netzliteratur, so Ortmann, lebt oft von ihrer Spontaneität, von Kürze und Schnitten ähnlich der MTV-Ästhetik. Die Zeichensprache des Internet, etwa der Smileys oder Kürzel, strahlen zudem zurück auf die "normale" Literatur. Was früher ein Briefroman war, wird heute zur Email-Erzählung. Und last but not least wird natürlich auch die Schreibe rasanter. Weswegen diese Bestandsaufnahme auch nur von geringer Halbwertzeit sein dürfte. Ihren Wert mindert das nicht!