Wollen Wähler betrogen werden?

Der britische Politikwissenschaftler Glen Newey behauptet: Lügen sind der Preis einer gesunden Demokratie

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Wenn es nach Glen Newey von der University of Strathclyde in Glasgow ginge, dann wäre ein Bundestagsausschuss zum Thema "Wahlbetrug" so überflüssig wie ein Kropf. Denn im Grunde erwarten die mündigen Bürger gar nicht, dass ihre Mandatsträger vor oder nach dem Urnengang tatsächlich die Wahrheit sagen. Schließlich wissen sie insgeheim, dass der hohe moralische Anspruch, mit dem sie ihre Politiker bedrängen, diese geradezu dazu zwingt, "mit der Wahrheit ökonomisch umzugehen".

Newey verdankt diese verblüffende Theorie der intensiven Beschäftigung mit "key American political events", also etwa der Watergate-Affäre, dem Iran-Contra-Desaster oder den Tumulten um das drohende Impeachment-Verfahren gegen Ex-Präsident Bill Clinton. Das Verlangen nach Offenheit und Übernahme politischer Verantwortung habe in all diesen Fällen ein ungesundes Klima des Misstrauens geschaffen und den Spielraum der Politiker so eingeschränkt, dass ihnen praktisch nichts anderes übrig blieb, als die Öffentlichkeit nach Strich und Faden zu belügen:

"Wenn Journalisten oder andere Politiker anfangen, Dinge zu überprüfen, welche die Regierung lieber geheim halten will, wird sie immer weiter zum Lügen gezwungen."

In Neweys Welt haben die Wähler für dieses Verhalten zu guter Letzt Verständnis, denn sie wissen, dass sie selbst zu weit vom politischen Prozess entfernt sind, um beurteilen zu können, welche Entscheidungen zum Besten des Gemeinwohls dienen. Darum kann es durchaus geschehen, dass die getäuschten Wähler beim nächsten Urnengang ihr Kreuz an derselben Stelle machen und so den Betrug im Nachhinein sanktionieren. Die Täuschung lag dann eben irgendwie doch im öffentlichen Interesse.

Doch das bedeutet noch nicht, dass sich die so oft gescholtenen Politiker nun feixend in die gepolsterten Sitzgelegenheiten fallen lassen können. Newey verlangt von der demokratischen Gesellschaft der Zukunft nämlich strengere Richtlinien, wann und in welchem Umfang das Belügen der Öffentlichkeit akzeptabel, sachdienlich oder vielleicht doch ein wenig strafbar sein könnte. Seiner Ansicht nach brauchen wir eine Art Kultur der politischen Täuschung:

"Die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist die Ursache und Konsequenz politischer Täuschung. Lügen bringen Politiker in Verruf, weil sie sich in dem Bestreben, diese Unzufriedenheit zu beschwichtigen, selbst eine unerfüllbare Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit auferlegen. Wenn wir mit diesem Tatbestand nicht ehrlicher umgehen, laufen wir Gefahr, unserer Demokratie schweren Schaden zuzufügen."

Womit denn wieder bewiesen wäre, dass Ursache und Wirkung keine festen Größen sind und man ohnehin besser fährt, wenn das öffentliche Leben unter Event-Aspekten betrachtet und daraus die affirmative Konsequenz gezogen wird. So hatte sich Newey Anfang des Jahres im renommierten London Review Of Books schließlich auch schon der Rolle der englischen Monarchie genähert:

"Der einzige Grund, warum die Queen und ihresgleichen die Rolle der nationalen Galionsfigur überzeugender darstellen können als ein gewählter oder ausgeloster Präsident, liegt darin, dass ein Clan, der von Entfremdung, mehrfacher Scheidung, Ehebruch, Alkoholismus und sporadischen Psychosen zerrissen wird, die tatsächlichen Familienwerte verkörpert."

Bleibt also nur der Trost, dass das politische System schließlich auch die Politikwissenschaftler bekommt, die es verdient ...