Woran erkennt man die Großmutter oder Halle Berry?

Nur eine Zelle macht den Unterschied

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Wie unser Gehirn visuelle Eindrücke verarbeitet, diskutieren Wissenschaftler seit vielen Jahren. Vor dreißig Jahren herrschte noch die Vorstellung, dass für jede Bild-Information ganz spezifische Nervenzellen zuständig seien, sozusagen ein Neuron für jedes wiederzuerkennende Objekt. Forscher, die sich über diesen Ansatz lustig machten, erfanden den Begriff „Großmutterzelle“. Denn wenn nur eine Zelle im Hirn die Großmutter erkennen würde, wäre ihr Absterben das unwiderrufliche Vergessen des Aussehens der eigenen Oma. Und täglich sterben sehr viele graue Zellen. Eine neue Studie zeigt aber jetzt, dass tatsächlich nur wenige Neuronen für das Wiedererkennen eines Objekts oder einer Person zuständig sind.

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature berichten Rodrigo Quian Quiroga, Leila Reddy und Christof Koch vom California Institute of Technology sowie Itzhak Fried von der University of California und Gabriel Kreiman vom Massachusetts Institute of Technology über ihre neue Studie zur visuellen Repräsentation im menschlichen Gehirn. In nur einem Bruchteil einer Sekunde erkennt der Mensch diverse Muster, Gebäude oder Personen wieder, selbst wenn die Perspektive auf das Bekannte neu ist. Wie genau das funktioniert, ist noch unklar (Wie funktioniert unser Gedächtnis?).

Menschliches Gehirn (Bild: California Institute of Technology)

Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren nicht zuletzt durch neue bildgebenden Verfahren wie die Magnetresonanz-Tomografie enorme Fortschritte gemacht (Legasthenie auf Chinesisch), inzwischen werden sogar schon Karten von unserem Denkapparat angefertigt (Nicht die Größe, sondern die Dichte macht den Unterschied). Trotzdem bleibt vieles in der Informationsverarbeitung und Gedächtnisspeicherung noch rätselhaft. Sehen und sich das Gesehene merken, sind sehr komplexe Vorgänge (Bilder).

Eine der grundlegenden Fragen lautet: Wie erkennt das Hirn verschiedene und auch abstrahierte visuelle Bilder schlagartig und ordnet sie richtig zu? Das Forscher-Team um Quiroga nahm die Gehirne von acht Patienten mit Epilepsie genauer unter die Lupe. Die Erkrankten können nicht mit Medikamenten behandelt werden und bekamen deshalb Elektroden implantiert. Das machte es möglich, genau zu analysieren, welche Neuronen bei ihnen auf visuelle Stimuli reagierten.

In verschiedenen Sitzungen wurden den Probanden Bilder von Personen, Tieren, Objekten und Sehenswürdigkeiten in zufällige Reihenfolge für jeweils eine Sekunde präsentiert. Dabei zeigte sich, dass einzelne Neuronen direkt ansprachen, wenn einer Versuchsperson verschiedene Versionen eines Objekts oder einer Person vor Augen gehalten wurden. So feuerte die gleiche indivduelle „Halle-Berry-Nervenzelle“ elektrische Impulse bei völlig unterschiedlichen Bildern der Schauspielern – von Porträts über Fotos im Catwoman-Kostüm (Krallen, Peitsche, rote Lippen) oder Karikaturen bis zum einfachen Namenszug, also der simplen Buchstabenfolge „H-A-L-L-E-B-E-R-R-Y”. Waren andere Leute zu sehen, blieb die Nervenzelle ruhig. Ähnliches war auch bei verschiedenen Aufnahmen anderer Prominenter oder von Sehenswürdigkeiten wie dem Eiffelturm oder dem Opernhaus in Sydney zu beobachten.

Aufnahme des Hirns von Christof Koch, verschiedene Ansichten online (Bild: California Institute of Technology)

Einzelne Neuronen reagieren also höchst individuell auf visuelle Reize, sie nehmen selektiv wahr und sind folglich tatsächlich z.B. auf die Großmutter oder den Großvater spezialisiert. Co-Autor Itzhak Fried fasst die Ergebnisse in ihrer Bedeutung für die Hirnforschung zusammen:

Dieses neue Verständnis der individuellen Neuronen als “denkende Zellen“ ist ein wichtiger Schritt in Richtung der Entschlüsselung des Codes der Wahrnehmung des Gehirns. Wenn unser Verstehen der Vorgänge zunimmt, könnten wir eines Tages fähig sein, kognitive Prothesen zu bauen, die durch Hirnverletzungen oder Erkrankungen verloren gegangene Funktionen ersetzen könnten, vielleicht sogar bezüglich des Erinnerungsvermögens.

Untersucht wurden Nervenzellen im limbischen System, das für emotionale Reaktionen zuständig ist. Die Wissenschaftler zeichneten die Reaktionen der Neuronen im Hippokampus, Amygdala, entorhinalen Kortex und Parahippokampus auf. Die Probandengruppe ist zwar sehr klein, bot aber die einmalige Möglichkeit, einen präzisen Blick direkt in lebende Hirne zu werfen. Weitere Forschungen müssen die Ergebnisse absichern. Dennoch liegt mit der neuen Studie ein kleines Puzzlestück zum besseren Verständnis der Funktionsweise der grauen Zellen vor. Christof Koch erläutert:

Unsere Untersuchungsergebnisse sind eine Herausforderung für das konventionelle Denken bezüglich der Funktionsweise von Hirnzellen. Die herkömmlichen Ansätze sehen Hirnzellen als einfache Schalter oder Relais. Tatsächlich haben wir festgestellt, dass Neuronen dazu fähig sind, differenziert wie ein Computer zu funktionieren.