Zehnfingersystem auf der Tastatur lernen - unnötig?

Kulturtechnik Schreiben: Eine finnische Studie zeigt, dass unorthodoxe Fingertechnik beim Tippen genau so schnell sein kann

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Die Handschrift der Kinder ist seit einigen Jahren ein Problemfall. Das geht mit einigen Verknüpfungen einher. So stellte die Bildungsforscherin und Grundschullehrerin Stephanie Müller Mängel beim Schreiben mit der Hand in Zusammenhang mit der Beobachtung anderer Defizite: "Viele Kinder können heute keine Schleife am Schuh mehr binden oder auf einem Bein stehen" (vgl. Die Handschrift stirbt aus).

Nach ihren Erkenntnissen brächten 70 Prozent der Schüler nach dem Kindergarten nicht mehr die nötigen motorischen Voraussetzungen für das sogenannte Kritzel-Alphabet (Schleifen, Schlangen- oder Zickzacklinien als Grundlage für verbundene Schriften mit Buchstaben) mit.

Kultureller Bruch: Handschrift nicht mehr wichtig

Für die Kunst- und Medienpädagogin liegen die Ursachen für die feinmotorischen Schwierigkeiten darin, dass die Kindheit "nicht mehr so bewegt" ist (kein Baumklettern mehr, weniger Hüpfen, Springen, draußen spielen), an Eltern, die sich nicht mehr oder zu wenig um die Schreibfähigkeiten ihrer Kinder kümmern, erwartungsgemäß auch an den Smartphones und Tablets ("ganz andere Handbewegungen und Muskeln nötig als beim Halten eines Stiftes") und letztlich auch an Lehrern, die zu wenig Zeit haben und teilweise selbst nicht mehr richtig mit der Hand schreiben können.

Anfang 2015 kam aus Finnland die Nachricht, dass die Schreibschrift ab Ende 2016 teilweise aus dem Lehrplan den Schülern getilgt und ihnen vorrangig das Tippen auf der Tastatur beigebracht werden soll.

Zwar sei ihr der "kulturelle Bruch" bewusst, wurde Minna Harmanen vom finnischen Bildungsministerium zitiert, aber viele Schüler täten sich schwer, die Buchstaben miteinander zu verbinden, und das Tippen auf der Tastatur sei alltagsnäher.

So sei es Schulen weiterhin erlaubt, Schreibschrift zu lehren, wenn sie das wollten, aber, so ließ sie verstehen, schnelles und fehlerfreies Schreiben auf der Tastatur sei "eine wichtige Kompetenz". Sogar irgendwie eine patriotische, soll Harmanen einer finnischen Zeitung gegenüber erklärt haben:

Flüssig tippen zu können ist eine wichtige nationale Kompetenz.

In Deutschland regten sich einige Gegenstimmen zur Ansicht, dass die Schreibschrift eine überkommene Kulturtechnik sei. So machte ein Artikel in der FAZ auf Studien aufmerksam, die einen engen Zusammenhang zwischen Handschrift, Gedächtnis und Konzentration postulieren.

(…) wer Buchstaben auf dem Papier erschafft, statt sie auf einer Tastatur auszuwählen, wer sie mit einer Handbewegung zu Worten verbindet, der aktiviert mehr Hirnregionen und vergisst das Notierte weniger leicht. Die relative Langsamkeit des Vorgangs unterstützt die Gedankenfindung und fordert Konzentration, nicht nur bei Kindern.

Mehr Tippkurse an den Schulen?

Von Schülern werde die Reform in Finnland begrüßt, berichtete demgegenüber die Neue Osnabrücker Zeitung und verweist ihrerseits auf eine Bildungsforscherin:

Dass Menschen eines Tages kaum noch per Hand schreiben, ist nicht so problematisch. Zumindest Druckbuchstaben werden die meisten, etwa in Notsituationen, einfach schon dadurch beherrschen, dass sie so viel in unserer digitalen Welt damit zu tun haben. Es wäre dumm, wenn wir neue technische Hilfsmittel - Gehirnprothesen nenne ich sie - nicht nutzen würden, um uns mehr auf den Inhalt, statt auf die Form zu konzentrieren

Caroline Liberg

Das kann Eltern irritieren. Die unausgesprochene Vorgabe, die in so gut wie jedem Gespräch von Eltern aus der Mittelklasse mitschwingt, heißt "bestmöglich". Also beides, Handschrift plus Tipp-Training?

Die Zeit ist knapp, dichte Schulpläne dazu Hausaufgabenzeit, Sport, Zeit fürs Spielen, Verabredungen… Und doch den Nachwuchs dazu drängen, dass er das Wahlfach "Zehn-Finger-Tippen" belegt - nicht in jeder Schule ist dies Pflichtfach? Zumal der Aufwand doch nicht so groß sein dürfte, da die Kleinen, ganz Kinder ihrer Zeit, eine sehr schnelle und geschickte Feinmotorik an den Tag legen, wenn es um Smartphones, Tablets, Controller, Joysticks oder auch nur um die Bedienung von Temperaturreglern geht.

Sechs Finger und Übung genügen

Eine kleine, auf genaue Fingerbeobachtungen beim Tippen gestützte Studie aus Finnland bringt ein neues Argument: Man braucht gar keine zehn Finger, um auf der Tastatur schnell schreiben zu können.

Die mit großem technischen Aufwand - 12 high-speed-Wärmebildkameras gerichtet auf Finger mit Reflektoren - betriebene Studie bekräftigt mit genauen Bewegungsmusterbildern eine Beobachtung, die aus dem Alltag bekannt ist: Mit unterschiedlichsten Methoden erreichten Teilnehmer ohne vorherigen Tippkurs ein Eingabetempo auf der Tastatur, das sich gut mit dem messen kann, das Teilnehmer mit Tippkurs erreichten.

Wir waren über die Beobachtung überrascht , dass Personen ohne Tippkurs, die im Durchschnitt sechs Finger benutzten, eine ähnliche Durchschnittsgeschwindigkeit und Genauigkeit erreichten wie jene mit einer Ausbildung im Zehnfingersystem.

Anna Feit

Der freie Blick

Es sei die erste Untersuchung, die sich damit befasst, wie Personen, die das Zehnfingersystem nicht gelernt haben, an der Tastatur arbeiten. Dass dafür eine eigene Methode ( optical motion capture system) entwickelt wurde, die bestimmte Bewegungsmuster und ein paar Gesetzmäßigkeiten beim unorthodoxen "hunt and peck" herausarbeiten konnte, dürfte die grundlegende wissenschaftliche Ausbeute dieser Studie sein.

Die Folgerung nämlich, dass eine Zehnfinger-Tipp-Ausbildung keine Vorteile bringt, liefert sie nicht unbedingt. Für solche großen Folgerungen ist die Zahl der Studienteilnehmer mit 30 zu klein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es schnellere 10-Finger-System-Tipper gibt als die Studienteilnehmer, ist gegeben.

Zum anderen machte sich ein großer Vorteil der gelernten Zehn-Finger-Tipper gegenüber den Autodidakten schon bemerkbar: Die Unorthodoxen mussten zweimal so viel Zeit verwenden, um auf ihre Finger statt auf den Bildschirm zu schauen - "(...), they found that untrained typists spent about twice as much time looking at their fingers instead of the screen".