Zeit zu sprechen

Frauen werden in Kriegszeiten immer wieder gezielt Opfer sexualisierter Gewalt. Wer sich erinnern will, muss das Schweigen durchbrechen

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So viel in diesen Tagen, Wochen und Monaten auch über den Zweiten Weltkrieg, nationalsozialistische Gräueltaten und persönliche Erinnerungen diskutiert wird – es gibt auch 60 Jahre nach dem vorläufigen Ende des Schreckens noch immer Themen, die sich dem eingebürgerten Umgangston entziehen. Zu ihnen gehört zweifellos die Anwendung von Gewalt gegen Frauen, und das bedeutet in Kriegszeiten fast immer: sexualisierte Gewalt in all ihren erniedrigenden Erscheinungsformen.

Auch wenn Demütigungen und Vergewaltigungen seit jeher und immer wieder ein Teil militärstrategischer Planungen sind, haben die Täter kaum einen Anlass, über die Ereignisse zu reden, und auch ihre Opfer werden durch Scham, Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung oder Rache oft ein Leben lang daran gehindert, das Geschehene öffentlich zu machen.

Die Menschenrechtsorganisation "medica mondiale", die traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt, bemüht sich seit vielen Jahren darum, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Die Aktion Zeit zu sprechen soll nun die Erlebnisse von Frauen während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit aktuellen Schicksalen an vielen Orten der Welt verknüpfen.

"medica mondiale" konzentriert sich dankenswerterweise nicht auf den 8. Mai 2005. Auch danach ist "Zeit zu sprechen", denn die Organisation plant neben öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und Publikationen noch Telefon- und Chat-Aktionen sowie ein ungewöhnliches Denkmalprojekt. Telepolis sprach mit Monika Hauser, der Gründerin und politischen Geschäftsführerin von "medica mondiale", über ihre Beweggründe und Zielrichtungen.

Frauen schämen sich auch nach so langer Zeit für das, was ihnen angetan wurde

Gewalt gegen Frauen in Kriegszeiten scheint tatsächlich den Tatbestand des Tabuthemas zu erfüllen. Wenn darüber gesprochen wird, dann in der Regel nur in Form einer kurzen Aufblendung. Warum ist das so?

Monika Hauser: Gewalt gegen Frauen unterliegt generell – ob im Krieg oder im Frieden - der Gefahr, dass sie bagatellisiert wird. Aber es handelt sich um ein tiefes Trauma, das fest in vielen Gesellschaften verwurzelt ist. Auch in der deutschen, und hier geht nicht nur um die lange zurückliegenden Ereignisse des Jahres 1945, sondern auch um ganz aktuelle Fragen, beispielsweise darum, wie wir heute mit bosnischen Flüchtlingen oder Kriegsflüchtlingen aus anderen Regionen umgehen.

Vor 60 Jahren gab es für Frauen und Männer ein vordringliches Ziel: Sie wollten überleben. Beide hatten Schreckliches erlebt – zu Hause, im Krieg oder in Gefangenschaft -, fanden aber weder die Möglichkeit noch die Kraft, darüber zu reden oder das Geschehene aufzuarbeiten. Für Frauen, die ja zu Hunderttausenden vergewaltigt und gequält wurden, hat sich daran nie etwas geändert. Sie können über den Krieg reden, über Bombennächte und den Verlust der Männer und Väter, aber darüber nicht.

Frauen schämen sich auch nach so langer Zeit für das, was ihnen passiert ist. Sie haben Angst, obendrein noch gesellschaftlich geächtet zu werden, und viele, die uns ihre Erlebnisse von damals schildern, bestehen darauf, dass wir sie erst veröffentlichen, wenn sie gestorben sind.

Können Sie beschreiben, wie diese Scham "funktioniert"?

Monika Hauser: Folteropfer geben sich oft selbst die Schuld daran, dass sie Opfer geworden sind, und wenn es um sexualisierte Gewalt und sehr intime Dinge geht, wird alles noch viel schwieriger. Außerdem spielen die Wertvorstellungen, die eine patriarchalische Gesellschaft bestimmen, eine sehr wichtige Rolle. Die Männer haben die Frauen nicht schützen können, also beschützen die Frauen ihre Männer und die gesamte Familie, indem sie über diese Erlebnisse schweigen. Andernfalls würde sich die Gewaltspirale in bestimmten Regionen - wie zum Beispiel dem Kosovo - übrigens weiter fortsetzen, da die Männer nun wieder zur Blutrache aufgerufen wären.

Kriegsvergewaltigungen sind auch deshalb so effektiv, weil Männer damit den "Besitz" anderer Männer angreifen und "schänden". Die Demütigung fällt schließlich auf den Mann zurück, der seine Frau nicht vor Demütigungen bewahren konnte.

Öffentlich machen, was in Kriegen geschieht

Sie wollen eine Brücke von den Ereignissen des Jahres 1945 zur Situation in aktuellen Kriegs- und Krisengebieten schlagen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Monika Hauser: Es geht immer um die gleiche Gewalt, damals wie heute. Wir wollen öffentlich machen, was in Kriegen geschieht, auch wenn es den Medien gerade keine Schlagzeile wert und für die Öffentlichkeit kein Thema ist. Darum reden wir über sexualisierte Gewalt gegen deutsche Frauen, über Gewalt in Konzentrationslagern, im besetzten Frankreich und Polen, aber auch in Bosnien, im Kongo und im Sudan.

Greift eine solche Initiative nicht zu kurz, wenn Frauen nur als Opfer beschrieben werden? Immerhin sind sie auch an der Ausübung von Gewalt beteiligt (gewesen).

Monika Hauser: Selbstverständlich, allein das Beispiel Ruanda zeigt, dass wir es auch mit Täterinnen zu tun haben. Doch niemand kann ernsthaft bestreiten, dass wir dann über Ausnahmen sprechen. Wenn ich in Kriegsgebiete fahre, sehe ich, dass Männer schlachten, vergewaltigen und der Zivilbevölkerung unvorstellbares Leid zufügen.

Aber auch Frauen tragen Verantwortung für das Funktionieren faschistischer Strukturen. So wie in Deutschland, wo Frauen auch Täterinnen waren. Sie haben sich regimekonform verhalten in den NS-Frauengruppen, in der Kriegswirtschaft und damit das System gestützt. Aber einige wenige haben auch aktiv als KZ-Aufseherinnen Menschenrechtsverletzungen begangen.

In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die den Deutschen selbst eine Opferrolle in der Zeit des Nationalsozialismus zuweisen. Unterstützt die Perspektive, aus der Sie Geschichte betrachten, wider Willen diesen Versuch einer schrittweisen Relativierung?

Monika Hauser: Die Gefahr ist natürlich da, aber wir begegnen ihr mit einem ganz klaren Bekenntnis: Wir sind auf der Seite der Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden – mit ihnen erklären wir uns solidarisch und mit niemandem sonst. Wir betrachten die Ereignisse nicht aus dem Blickwinkel einer Kriegspartei, sondern setzen auf unsere eigenen feministischen Werte. Deshalb arbeiten wir auch nicht mit Organisationen zusammen, die in irgendeiner Weise versuchen, das Thema zu instrumentalisieren oder aus einer einseitigen Perspektive zu betrachten. Die Relationen müssen jederzeit deutlich bleiben.

Um die Frage konkreter zu beantworten, so glaube ich, dass Margarete und Alexander Mitscherlichs Feststellung einer "Unfähigkeit zu trauern" für die Deutschen weiterhin gilt. Wir sind bei der Aufarbeitung dieses Themas noch am Anfang, viele Frauen sprechen erst jetzt, die meisten können es gar nicht mehr. Durch eine offene Auseinandersetzung könnte aber verhindert werden, dass eine Gesellschaft an einem solchen Trauma krankt. Für Deutschland kann sich ein solcher überfälliger Dialog nur positiv auswirken, und das gilt beispielsweise auch für das ehemalige Jugoslawien. Wenn die Konflikte und unbearbeitete Schuld nicht angesprochen werden, können sie irgendwann wieder ausbrechen.

"medica mondiale" will ein Denkmal errichten, "welches allen Frauen und Mädchen gewidmet ist, die Opfer sexualisierter Kriegsgewalt weltweit wurden". Wie soll es aussehen und wo soll es stehen?

Monika Hauser: Wir sind ja noch im Planungsstadium und werden vermutlich Anfang Juni die ersten Ergebnisse im Internet präsentieren können. Gedacht ist zunächst an ein virtuelles, interaktives Denkmal, an dem sich viele Menschen beteiligen können, weil wir Zeitzeuginnen präsentieren, Projekte vorstellen, für unsere Arbeit werben usw. Und dann wollen wir das Ganze visualisieren und das Denkmal in der Realität aufstellen. Vielleicht in Berlin, am Potsdamer Platz.

Am Potsdamer Platz?

Monika Hauser: Oder am Brandenburger Tor? Wir werden sehen. Viel wichtiger als der konkrete Ort ist schließlich, dass dieses Thema einen zentralen Platz bekommt und nicht mehr verdrängt werden kann.