Zugang statt Verteilung

Auf der Suche nach einer neuen Gerechtigkeit entdeckt die SPD die "global commons"

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Der siebte Philosophenkongress der SPD in Berlin: Benjamin Barber warnt vor dem Verfall der Öffentlichkeit und vor der weltweiten Ausbreitung des nicht demokratisch gezähmten Kapitalismus. Olaf Scholz antwortet.

Wolfgang Thierse lächelt. Er wippt mit dem Fuß, wendet den Kopfhörer versonnen hin und her, und ist sichtlich zufrieden mit dem Verlauf der Operation. Neben ihm sitzt Olaf Scholz. Auch er lächelt - verdächtig selbstsicher. Der SPD wird gerade eine Dosis frischer Ideen injiziert. Für diesen Zweck hat sie sich einen Experten aus den USA eingeladen, der sein Handwerk versteht: den Polit-Theoretiker und ehemaligen Clinton-Berater Benjamin Barber. "Philosophy meets Politics", lautet das Thema der Veranstaltung. Benjamin Barber ist "die Philosoph". Olaf Scholz "die Politik".

Die Zuhörer, die an diesem Freitagmorgen zu der Veranstaltung des Kulturforums der SPD in das Berliner Willy-Brandt-Haus gekommen sind, ergeben sich willig den Beschwörungen des Autors von "Coca Cola und Heiliger Krieg: Jihad versus McWorld" (s.a. Wie demokratisch ist das Internet? von B. Barber). Und obwohl Barber ähnliches wie heute schon einige hundert Mal vorgetragen haben muss, nimmt man es ihm ab, dass er bis zuletzt, schon auf dem Podium sitzend, über seine handschriftlichen Notizen gebeugt, an den Formulierungen und Gedanken gefeilt hat.

Neue Grundsätze für die SPD

Die Verbindung steht. Die Ideen-Übertragung läuft reibungslos und schnell. Benjamin Barber spricht über die globale Informationsökonomie, die Privatisierung, den Verfall der Öffentlichkeit und die Kommerzialisierung des Privaten Raumes: seine Themen.

Einiges davon kann die SPD vielleicht gebrauchen. Denn sie befindet sich in den Anfängen einer neuen Grundsatzprogrammdebatte. Dreißig Jahre hatte das alte, das Godesberger Programm der Partei gehalten. Das noch 1998 nach-renovierte Berliner Programm soll nun bereits nach nicht einmal fünfzehn Jahren ausgetauscht werden. Im Mittelpunkt des geplanten Relaunches steht die soziale Gerechtigkeit. Die SPD will weg von wohlfahrtstaatlichen Zentrierung auf die Verteilungsgerechtigkeit. Das ist in Zeiten, wo es immer weniger zu verteilen gibt, verständlich.

Benjamin Barber hat zwar auch keine Vorschläge, wie der Sozialstaat und die Versorgung der Rentner in Deutschland in Zukunft aussehen soll. Dafür hat er einen neuen Leitbegriff im Handgepäck: die Öffentlichkeit. Oder, weniger trocken-demokratietheoretisch: "our common ground". "What we share". Die Privatisierung, sagt Benjamin Barber, hat es auf die Öffentlichkeit abgesehen.

Öffentliche Güter

Wolfang Thierse hat sich diese Idee mit der Öffentlichkeit zu eigen gemacht. Der Begriff "öffentliche", oder "globale öffentliche Güter", so hatte er seiner Begrüßungsrede erklärt, soll den strategisch richtigen und fruchtbaren Ausgangspunkt für eine Neubestimmung von sozialer Gerechtigkeit setzen. Statt "Verteilung", anstelle also von staatlichen Transferleistungen, soll der "Zugang" Gerechtigkeit garantieren - Zugang zu Infrastrukturen. Also: zu Kindergärten, Schwimmbädern und Museen, zu Gesundheit, Bildung, Mobilität und Kultur.

Benjamin Barber kennt das Rezept für das Fluidum, um solche Ideen zu verbreiten. Es geht nicht anders, als radikal. Der Grund dafür, dass die Öffentlichkeit auf den Hund gekommen ist, sagt Barber, sei, dass der "Bürger" dem "Verbraucher" gewichen sei. Man geht nicht mehr zur Wahl - sondern verleiht seiner Meinung Ausdruck, indem man bestimmte Produkte kauft. "Call it Liberty: Verbrauchen macht frei." Pause. Und dann: "Es kommt aber nicht darauf an, zwischen einem Mercedes und einem Audi zu wählen." Barber hebt die Arme. "Es geht darum, wer die Agenda bestimmt". Die Arme sinken. "Ich möchte nicht zwischen verschiedenen Automarken, sondern zwischen privaten und öffentlichen Transportmitteln wählen können."

Kant und Hegel, alle politische Philosophen, erklärt Barber, sie wussten: Wenn wir wählen, verleihen wir nicht unseren privaten Präferenzen Ausdruck, sondern streben nach einer gemeinsamen Basis. Und dann, der Kurzschluss im Themenkreis. Ein kleines Feuerwerk zur Krönung:

Auch Gerechtigkeit ist ein öffentliches Gut. Gerechtigkeit kann in einer privatisierten Welt nicht realisiert werden.

Das ist mehr als Wolfgang Thierse, der zuvor immer wieder versprochen hatte, dass die neue Gerechtigkeit der "öffentlichen Güter" auch als ökonomisch sinnvolle Strategie begründet werden solle, sich von seinem Podiumsgast erhofft haben dürfte.

Über den unvermeidlichen 11. September geht es zügig weiter zu Fakten und Ansichten zum Zustand der Weltbevölkerung, deren Schicksal sich die SPD noch bei fast jedem der bislang sieben, jährlich stattfindenden "Philosophy meets Politics"-Kongresse angenommen hatte (Im Minimalkonsens voraus). Auch Wolfgang Thierse hatte in seinem Einleitungsreferat auf die Dringlichkeit der Lage hingewiesen. Den globale Bedingungen und Einflüssen, denen die politische Handlungsfähigkeit unterliegt, könne die SPD nicht ausweichen. Weltpolitik also. Keine kleine Aufgabe. Gerechtigkeit, das schärft Barber seinen Gastgebern unmissverständlich ein, lässt sich nur global realisieren - oder gar nicht. Brausender Applaus.

Scholz' Antwort

Die global commons - ein Begriff der Neue-Medien-Politik - als neue Leitvokabel: das wäre "Philosophie". Sie muss, um im politischen Programm zu funktionieren, erst konvertiert werden. Dafür hat die Partei ihren Mann: Olaf Scholz von der SPD.

Herr Scholz sagt, er habe von der Partei den Auftrag erhalten, auf Benjamin Barber zu antworten. Vieles von dem, was Barber entwickelt hatte, lässt Scholz durchblicken, finde er nicht wirklich geeignet - aber es gebe dennoch ein paar Dinge, über die man sprechen müsse. Über die er sprechen müsse. Denn Olaf Scholz ist ein Ich-Sager. "Ich glaube, wir brauchen Öffentlichkeit". Denn immer mehr personalisierte Informationen, immer mehr hektische Nachrichten, das gefällt ihm, Scholz, auch nicht.

Scholz beschwichtigt: Wer, wie Barber, gegen die "Privatisierung" wettert, müsse ja nicht notwendig gegen den Verkauf staatlicher Betriebe und Dienstleister sein. Scholz lenkt ein: "Ich finde, da ist etwas richtig beschrieben worden." Und weil es richtig ist, sagt er es gleich noch einmal. Olaf Scholz in seinen eigenen Worten: "Es gibt eine Interdependenz, aus der wir uns nicht entziehen können." Olaf Scholz redet, mit wechselnden Gesprächpartnern, an diesem Tag noch länger vom Podium herab. Wolfgang Thierse ist irgendwann einfach wieder verschwunden.