Zukunft wird aus Ideen gemacht, nicht nur aus Aktien

Jürgen Habermas - Friedenspreis für Frankfurter Diskursphilosophen

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Man mag sich einen rastlosen klugen Kopf wie Jürgen Habermas nicht so recht emeritiert, in Rente vorstellen. Sondern unentwegt am Schreibtisch. Oder unterwegs zu Vorträgen und Symposien. Der Diskumane und Workaholic der jüngeren Frankfurter Kritischen Theorie hat ein weitverzweigtes Lebenswerk hingelegt, das den Sozialphilosophen als engagierten Intellektuellen auszeichnet. Dafür erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Bereits in seiner akademischen Frühphase, zwischen Gummersbach, Bonn und Heidelberg, war Habermas’ enthusiastische Lektüre deutscher Philosophen überlagert von der instinktiven Empörung über den unbedenklichen Umgang mit der nationalsozialistischen Ära in der jungen Republik. Die kritische Bewunderung des Existentialphilosophen und Seinspriesters Martin Heidegger war beeinträchtigt von der kurzen braunen Vergangenheit des sich ausschweigenden deutschen Meisterdenkers und wurde sogleich durch Jaspers' Position der inneren Emigration ergänzt.

Habermas' philosophisches Spektrum spannte sich weiter durch Studien zur philosophischen Anthropologie Herders, Nietzsches, Schelers, Gehlens, Rothackers und Plessners (vgl. sein berühmtes Stichwort 1958 in der Erstaufgabe des Fischer-Lexikons "Philosophie", die alle Motive seines späteren Denkens enthält); bis hin zur Auseinandersetzung mit der philosophischen Hermeneutik Diltheys, Husserls und Gadamers, die in der Sprache, der Fähigkeit zur alltäglichen Verständigung und zur Kunst der kreativen Interpretation und Übersetzung das vernünftige Wesen des Menschen auszumachen suchten. Einen wichtigen Einschnitt bildete die soziologische und politologische Ausbildung, vor allem bei Walter Abendroth, der ihn auf die Spur der politischen Öffentlichkeit setzte.

Gegen rechten Bildungsmief und Linksfaschismus

Wie kein anderer in seiner Nachkriegsgeneration machte Habermas die Chancen und Risiken des bildungsbürgerlich-konservativen Geistes der akademischen deutschen Philosophie um die vorige Jahrhundertwende bewusst und beleuchtete sie erfolgreich durch interdisziplinäre Vielfalt. Spätestens seit seiner Tätigkeit an der Universität Frankfurt erhielten sein philosophischer Erkenntnisdrang und seine differenzierte gesellschaftliche Kritik jenen typischen Zuschnitt, den man als demokratisch geläuterte Nachfolgegeneration der älteren Vertreter der Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, bezeichnen kann. So trug auch Habermas maßgeblich dazu mit bei, den deutschen Geist vom Selbstmissverständnis des nationalen Bildungsmiefs zu befreien und als Bestandteil einer engagierten Intellektuellen-Kultur auf internationalen Niveau zu nutzen.

Schon längst vor 1968 stand Habermas auf der Seite der Hochschulreformer ("Student und Politik"), und als die Studentenunruhen ausbrachen, versuchte er, ungleich wirklichkeitsnäher als die vorherige, oft überforderte Generation der kritischen Theorie, mit auszuformulieren, was die jungen Leute zwischen Woodstock und Vietnam, zwischen Berkeley und Tokio, Berlin und Paris bewegte: die Politisierung protestierender Intellektueller in der Nische einer experimentellen Gegenkultur, die sich wider autoritäre Verkrustungen und strukturell gewaltsame Verhältnisse qua Entfremdung und Ausbeutung auflehnten.

Habermas eigenes linkes Engagement war kein bloßes Lippenbekenntnis, kein negativer Geschichts- und Vernunftpessimismus, aber auch kein simples Parteiprogramm. Er war gewitzt, mutig und ausdauernd genug, daran zu arbeiten, um in Seminaren und bei den anstehenden Konflikten zwischen verschiedenen Positionen und Ansätzen argumentativ zu vermitteln und den eigenen Einfluss zu Schritt für Schritt zu mehren. Das Selbstverständnis linker Gesellschaftskritik war für ihn weder spätbürgerliche Ersatzreligion, noch Fertigprodukt, es musste allererst und umfassend, ebenso grundsätzlich allgemein wie konkret entwickelt werden. Und es musste veränderbar, lebendig, beweglich bleiben, um nicht ideologisch zu erstarren. Dies hat er später "kommunikative Verflüssigung" genannt. Studentinnen und Studenten bis in die 80er Jahre haben diesen Terminus in Bockenheimer Kneipen gerne auf ihre Weise umgesetzt.

Den "Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus", den Dauerkrisenzuständen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sowie den verhinderten Entwicklungsmöglichkeiten ging man ebenso auf den Grund wie den "argumentativen Implikationen" von Theorien und den "entwicklungslogischen Niveaus" unterschiedlicher Moralansätze. Dass die Ausführungen nicht immer für jedermann voraussetzungslos verständlich waren und die Teilnehmer oft außergewöhnliche terminologische Gebirge erklettern mussten, die gleich aus mehreren Begriffswelten kubistisch zusammengesetzt waren, sei nebenbei angemerkt. Trotz seiner unnachgiebigen akademischen und intellektuellen Professionalität hing Habermas stets dem Ideal öffentlicher Diskussion und pädagogisch transparenter Lernprozesse an, einem Ideal, das ihn eindeutig als westlichen Verfassungspatrioten kennzeichnete, der totalitärem und elitärem Denken von Rechts wie Links eine Absage erklärte.

Dass er zeitweise die APO um Dutschke und Krahl mit dem Menetekel des "Linksfaschismus’" brandmarkte, weil der voreilige "Aktionismus" ihrer wildesten Vertreter in konzeptlose Gewalttätigkeit ausartete und auf repressive Polizeitaktiken stieß, die wiederum zur Erschießung des Berliner Studenten Benno Ohnesorg führten, zeigt, wo für Habermas die Grenze in Theorie und Praxis, zwischen konstruktiver gesellschaftlicher Veränderung und der Anzettelung eines "revolutionären" Bürgerkriegsszenarios lag.

Bewegende Debatten und literarische Glanzlichter

Auch die späteren, maßgeblich von ihm mitbewegten Debatten sorgen für Auf- und Ansehen: so die Verteidigung einer streitbaren sozialliberalen Republik im Zuge der Terrorismus-Hysterie und der rechtskonservativen Diffamierung linker Gesellschaftstheorie als geistiger Urheber von Gewalt (70er Jahre). Die Historikerdebatte um die kritische Einschätzung und mögliche Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen durch Hillgrubers und Fests verklärend-abschwächende Darstellung zum Dritten-Reich, zum Krieg und zum Holocaust (80er Jahre). Der Angriff auf den euphorischen Deutsche-Mark-Nationalismus, die Kritik der fehlgeleiteten Wiedervereinigung durch Direktanschluss der Ostbundesländer an die konservative Bundesrepublik vor den Augen einer ohnmächtigen sozialdemokratischen Opposition (1989). Der Streit um die zweifelhafte, von Habermas gleichwohl erwogene internationale Rechtfertigung des Golfkriegs jenseits von westlichen Macht- und Ölinteressen (Anfang der 90er Jahre). Schließlich die zum Teil freischwebende, nicht mehr so stringent wie früher angelegte Polemik gegen das gentechnische Klonen von menschlichen Embryonalzellen.

Zu den Glanzlichtern seiner literarischen Produktivität gehören oft eher kleinere Schriften, die Lesbarkeit und argumentative Dichte aufs glücklichste vereinen, so der Essay über Walter Benjamin, die instruktiv verwickelten "Notizen zur Diskursethik", die souveräne Studie über Nietzsche als "Drehscheibe der Postmoderne" und die zum panoramischen Selbstporträt stilisierte Rede über "Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland".

Hausmacht und kommunikatives Handeln

Dabei ist Habermas keineswegs nur der immer wieder gern geschilderte einzelne Denker in der öffentlichen Arena. Habermas hatte sich längst eine akademische, verlegerische und publizistische Hausmacht (mit Ausnahme seiner selten durchbrochenen TV-Scheuheit) zugelegt. Auf diese Hausmacht hat es jüngst Peter Sloterdijk in seiner napoleonischen Absichtserklärung "Die kritische Theorie ist tot" abgesehen. Nicht umsonst eröffnete Jürgen Habermas' grundlegendes, noch allzu aufklärungsoptimistisches Werk "Erkenntnis und Interesse" (1968), in dem es um die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen angeblich wertfreier Erkenntnisse in Geistes-, Natur- und Gesellschaftswissenschaften ging, anfangs der 70er Jahre die neue linksintellektuelle Verlagsreihe schlechthin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (stw) Nr. 1. Im klassischen Willy-Fleckhaus-Twen-Design. Als Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" in den 80ern den Sprung in die regenbogenfarbene "edition suhrkamp" schaffte, kündigte sich bereits die Neuorientierung des Verlagsprogramms weg vom Soziologie-Seminar zur fröhlichen Wissenschaft der Postmoderne an, die auch vor Sonderdrucken zum "Menschenpark" nicht zurückscheut.

Habermas' erste Theorieschübe Mitte der 70er Jahre zerrieselten in weitgespannten Forschungsprojekten, die zu zahlreichen, in sich verzettelten Einzelveröffentlichungen führten. Die Habermasianer sammelten diese zwischen trockenen Universitätspapern und vollmundigen Gesamtzwischenentwürfen schwankenden Publikationen inbrünstig.

Erst 1981, im Opus magnum der "Theorie des kommunikativen Handelns", hatte Habermas seine Position ausgearbeitet: fast romanhaft, dabei doch trocken, wie ein "Butt" über tausend Seiten zerlegt und filetiert. In der Hauptsache ging es um die Bedingungen einer menschenwürdigen modernen Lebenswelt, die sich durch alltägliche kommunikative Vernunft auszeichnet und durch anspruchsvolle gesellschaftliche Diskurse immer wieder über ihre eigenen bedrohten Voraussetzungen aufklärt, um sich wehrhaft (und wandlungsfähig) gegenüber unterschiedlichen funktionalistischen Systemzwängen von Macht, Geld und Medien zu erweisen. Dieser Ansatz brachte das erwachende Selbstbewusstsein der späten westdeutschen Bonner Republik, jener von globaler politischer Verantwortung noch partiell entlasteten Wohlstandsinsel, philosophisch auf den Punkt.

Habermas entwickelte seine Ansichten dialektisch-methodisch, durch ein stetiges Pro und Contra, das ihn durch die Wissenschaftsgeschichte großer europäischer und amerikanischer Denker führte: von Gesellschaftstheoretikern wie Durkheim und Mead über Systemanalytiker wie Parsons und Luhmann, von der kommunikativen Rekonstruktion der Kantischen Ethik bis zur Kritik an Max Webers positivistisch verkürzter Soziologie, von Poppers unzureichendem Konzept einer Einheitswissenschaft (Unified Science) bis zur multi-rational umgedeuteten Sprechakttheorie bei John R. Searle.

Dessen Vorarbeit an den grundlegenden Dimensionen des Sprechhandelns nahm Habermas zum Anlass, einen Handlungstyp einzuführen, der für das gesellschaftliche Alltagshandeln lebensnotwendig ist: das kooperative, verständigungsorientierte Handeln und Verhandeln. Und er legte im Detail dar, dass dieses Sich-Miteinander-Abstimmen notwendigerweise mit Vernunft verbunden sein muss, und zwar in vier einlösbaren Geltungsansprüchen: der "objektiven, sachbezogenen Wahrheit", der "subjektiven Wahrhaftigkeit", der "intersubjektiven Richtigkeit" und der "sprachlichen Verständlichkeit", - im Gegensatz zum stummen, allein am eigenen Erfolg und an der manipulativen Unterwerfung des Anderen orientierten strategisch-technischen Verhalten. Auf diese Weise war für Habermas die Vernunft als Medium der Kommunikation mitten im gesellschaftlichen Alltag nachgewiesen.

Diskurs im digitalen Zeitalter

Habermas hat in der zusammen mit Apel entwickelten "Diskursethik" den Maßstab des individuellen ethischen und des kollektiven politischen Handelns gleichermaßen im vernünftigen Diskurs, in der Argumentation zwischen streitbaren und verständigungsbereiten Gesprächspartnern gesetzt. Damit hat er Ethik und Wissenschaft miteinander verkoppelt und zugleich beide politisiert, wie er umgekehrt die Entscheidungen der Politik und die Entwicklungen der Gesellschaft unter eine ethisch begründete Vernunft stellen wollte.

Im Zeitalter der digitalen Medien besteht dieses Projekt seine stärkste Zerreißprobe: Was passiert genau, wenn das kommunikative Handeln aus der Alltagskommunikation und seinem lebensweltlichen Kontext gerissen wird und zum Medienprodukt oder zum Füllmaterial für die Apparaturen von Macht und Geld transformiert und entfremdet wird? Ist dieses Substrat der Lebenswelt in der (post-) modernen Gesellschaft überlebensfähig und impulsgebend, oder nur noch als medienunterstützte Fiktion denkbar, wie Telecom-Promoter Bolz meint? Und inwieweit können verbindliche öffentliche Diskurse in der Medien- und Dienstleistungsgesellschaft hergestellt werden und Wirkung zeitigen?

Die Bewusstseins- und Unterhaltungsindustrie weltumspannender Medienkonzerne hat die Inhalte lebensweltlicher Kommunikation längst zu neuen Formaten aufbereitet und damit auch die Alltagsorientierungen der Gesellschaftsmitglieder einschneidend modifiziert. Internet-Kommunikatoren wehren sich, je nach ihrer Surf-Kultur, gegen den Einheitsbrei vermeintlicher Vielfalt. Die mittlerweile rotgrüne Berliner Republik entrollt sich gekonnt als medienpolitisches Schauspiel par excellence, bei dem der gute alte öffentliche Diskurs, die aktuelle Flut innen- und außenpolitischer Argumente, nur noch das PR-Begleitgeräusch des tatsächlich vollzogenen ökonomisch-politischen Wandels und technisch-wissenschaftlichen Fortschritts abgibt.

Eine neureiche Sozialdemokratie hat sich in ihren Grundsatzprogrammen mit Habermasschen Stichworten geschmückt, bis Beck mit der Risikogesellschaft das erleichternde Ablösestichwort gab. Die postmodernen Denker haben sich über Habermas' Ethisierung und kommunikative Rationalisierung der Wirklichkeit als schlechten hegelianischen Witz mokiert, sie haben den kantischen Aufgabencharakter dieser Forderung, die Welt diskursfähig zu halten, verkannt oder überspielt, um die Welt als "ästhetisches Phänomen" zu schildern und zu genießen, im uneinholbaren Widerspruch, in der heterogenen Différance oder der transversalen Verschiebung.

Wer auch immer Recht behalten mag: Habermas' Idee einer vitalen und pluralen Öffentlichkeit - in der Intellektuelle, Denker, Literaten, Künstler und Bürger, gemeinsam Themen und Diskurse lancieren, argumentativ verhandeln und so kreativ den Prozess der gesellschaftlichen Meinungsbildung vorantreiben, um Druck und Einfluss auf die politische Willensbildung von Institutionen auszuüben - ist auch im Internet unverzichtbar. Sie liefert einen Baustein für eine kritische Medientheorie der Zukunft, welche die globale Industrialisierung der Kultur durch Infotainment in ihren Gesamtfolgen angemessen einschätzen will, um sich nicht an das infantile Spielmodell der gegenwärtig übersatt verarmten Spaß- und Neidgesellschaft zu verlieren. Zukunft wird doch aus Ideen gemacht, nicht nur aus Aktien.