Zukunftstüchtig? Was wir bei Konflikten sehen müssen

Seite 3: "Mich interessieren die nächsten fünf Minuten"

Das passt auch gut zu Ihrer Beschäftigung mit der Denkrichtung des Speculative Realism, der sich häufig sogenannter Genreliteratur, wie etwa der Science Fiction, öffnet. Interessant, wie vordergründig fiktionale Texte als Blaupause für philosophische Überlegungen werden können. Wie sehen Sie das?

Armen Avanessian: Science Fiction oder Horror ist ein weites Feld, aber mit einem anderen Autor, J. G. Ballard, gesprochen: Mich interessieren nicht irgendwelche wilden Fantasien im Weltraum, sondern die nächsten fünf Minuten.

Mein Interesse gilt Phänomenen aus der Zukunft, die Potenzial haben, sich zu verwirklichen. Sogenannte Hyperstitions. Nicht einfach Superstitions, also: irgendein Aberglauben, und nicht nur Hypes. Sondern beides, also eben Fiktionen, die real werden. Dazu gibt es auch einen Film mit dem Titel "Hyperstition".

Wie werden teils skurrile, man kann sagen: fiktive Annahmen zur Zukunft und über die Zukunft real? Welches Potenzial haben sie, aufzuhören, rein fiktiv oder erfunden zu sein?

Man kann sagen, dass unsere Realität mehr und mehr von Phänomenen geprägt ist, die man vor einigen Jahren noch als undenkbar oder nicht real gehalten hätte. Und was Literatur und Philosophie meiner Meinung nach immer schon teilen, ist ein spekulatives Interesse, das Sondieren von möglichen Räumen, ohne dass das notwendigerweise Wissenschaftlichkeit ausschließt.

Auch die Naturwissenschaften machen das. Wenn Sie sich die astrobiologischen Überlegungen ansehen, durch naturwissenschaftliche Fragen zu den Möglichkeiten von Leben auf anderen Planeten und auch auf unserem Planeten zu forschen, dann sind das bisweilen hochspekulative Konstruktionen, Aufsätze und Bücher, die in Sachen wilder oder aufregender Spekulation keineswegs großartigen Science-Fiction-Büchern nachstehen.

Wie schreibt sich Tiefenzeit in unser Leben ein?

Wäre also mehr Spekulation in den Diskursen wünschenswert?

Armen Avanessian: Die Spekulation ist ein zweischneidiges Schwert und das Spekulieren hat im Allgemeinen einen schlechten Ruf. Nehmen wir sie ganz wörtlich, also in ihrer optisch-visuellen Dimension, dann kommen wir auf speculare, das Sehen.

Wir haben heute nicht nur Weltraumteleskope, die tief in den Raum blicken, sondern auch tief in die Zeit. Wir waren alle mal Kinder und hatten Fantasien über irgendwelche anderen Planeten, mögliches Leben auf anderen Planeten oder den Ursprung unseres Planeten.

Inzwischen aber wissen wir in einem Ausmaß Bescheid, wie es vor einigen Jahrzehnten noch völlig unvorstellbar gewesen wäre. Wir blicken tief in unsere Vergangenheit und zugleich können wir eine in vielen Jahrmillionen mögliche Zukunft anschaulich machen.

Wir sind mit einer Tiefenzeit nicht nur geologischer Natur konfrontiert, sondern wissen Bescheid über Jahrmilliarden der Entwicklung unseres Planeten und unseres Sonnensystems und anderer Galaxien. Es gibt nicht nur ein paar wenige Planeten, sondern wahrscheinlich Milliarden Exo-Planeten.

Diese Form von Tiefenzeit und tiefenzeitlichem Wissen, von einem tiefenzeitlichen historischen Horizont kollidiert mit unserer biografischen und biologischen Zeit. Das ist eine Kollision aus zwei exorbitant unterschiedlichen Zeitdimensionen, die wir gerade jetzt beginnen, zu erleben.

Eine der Fragen des Buches ist: Wie schreibt sich diese Tiefenzeit in unser Leben ein? Gibt es so etwas wie eine biografische Tiefenzeit, um einen der Untertitel des Buches anzuführen? Die andere zentrale zeitliche Veränderung betrifft die Hyperantizipation, also das ständige Einprasseln von zukünftigen Daten und Zeitmarkierungen.

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