Zur Vietnamisierung des Globus

Bush und die List der Geschichte

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Bush führt nun den Krieg, den sein Vater aus Gründen nicht führen wollte, die der Sohn als selbst ernannter Weltgefahrenbeauftragter ignoriert (Der Angriff der Klonkrieger). Er führt einen Krieg, der kein Krieg sein soll, sondern eine Polizei- und Aufräumaktion, bestenfalls ein Nachkriegsscharmützel, eine lästige Durchgangsphase zur irakischen Demokratie westlichen Zuschnitts (Politische Pädagogik oder der Befehl zur Freiheit).

US-Soldaten marschieren am 19.11. in ein Dorf in der Nähe von Qayyarah ein

Aber sie (die amerikanische Nation) geht nicht in andere Länder, um Ungeheuer zu vernichten...Die grundlegende Maxime ihrer Politik würden sich unmerklich von Freiheit zur Gewalt verlagern. Sie würde zur Diktatorin der Welt werden. Sie würde ihren eigenen Geist verleugnen.

John Quincy Adams, 1821

Doch schon kursiert ein hässliches Wort, ein traumatisches Wort für die amerikanische Wohlstands- und Erfolgsgesellschaft: Vietnam. Vietnam steht in der Bewertung historischer Katastrophen Amerikas - vielleicht gleichberechtigt neben dem amerikanischen Sezessionskrieg - für die fürchterlichste Kriegserfahrung dieser Nation. Vietnam wurde zum Zeichen für die Unbeherrschbarkeit von Welt und Geschichte, nicht weniger aber der Torheit der Mächtigen, denen die Courage fehlte, den eigenen Irrweg zu erkennen.

Trotz gigantischer militärischer Überlegenheit, einer schier unbegrenzten Logistik, die im Zweiten Weltkrieg einen Zwei-Fronten-Krieg in Europa und im Pazifik ermöglichte, und - wie immer - der allerhöchsten Moral auf der eigenen Seite war dieser Krieg gegen das "lumpige, viertklassige Ländchen" (US-Präsident Johnson) nicht zu gewinnen. Vietnam wurde Amerikas Wunde, die bibelfesten Christen geradezu als göttliche Strafe für so viel Hybris erschienen sein mag.

Nun wurde gerade der erste amerikanische Golfkrieg von Bushs Vater als Überwindung dieses Traumas gefeiert. Der erfolgreiche Bilderbuch-Blitzkrieg von Bush I. gegen Saddam Hussein vertrieb die Horror-Ikonen der morbiden Dschungelszenarien, in denen GIs schließlich selbst die Hölle erlebten, die sie doch mit Agent Orange und Napalm allein den anderen bereiten sollten.

Heute ist in Bagdad die Hölle los. Es sind nicht nur die allfälligen Anschläge, die die Weltnachrichten aufheizen, sondern es gibt auch die Hölle der alltäglichen Unsicherheiten, in der Menschen ihre Familien mit der Kalaschnikow verteidigen müssen, weil der Mensch seinem Nachbarn wieder zum Wolf geworden ist. Weder die Besatzer noch die irakische Polizei richten bislang gegen die Anschläge und Übergriffe marodierender Banden, Erpresser und der bunt gemischten Feinde Amerikas viel aus. Was flüstert wohl eine irakische Mutter ihren Kindern zu: "Halte dich nicht in der Nähe von amerikanischen Soldaten auf."

Das ist die wahre Begrüßung der Eroberer. Bushs geschichtsseliger Vergleich des Irak mit der westdeutschen Nachkriegssituation, die so stromlinienförmig in der bundesrepublikanischen Demokratie mündete, wird durch jeden weiteren Bombenanschlag ad absurdum geführt. Paradox formuliert: "Geschichte wiederholt sich, aber eben anders, als sie sich zuvor zugetragen hat." Bush gibt sich weiter zwangsoptimistisch, weil er die Rolle, die er suchte, nicht mehr verlassen kann. Mitstreiter wie Don Rumsfeld haben inzwischen längst der Zweifel am globalen Antiterrorkampf ereilt, zudem die Oberbösewichter nicht unschädlich gemacht wurden. Mit anderen Worten: Die Kriegsziele wurden weit gehend nicht erreicht. Bushs vorgeblich unerschütterlicher Glauben an seine Mission kommt dagegen aus derselben Quelle, die ihn veranlasste, der Welt wider besseres Wissen die irakische Gefahr als unmittelbar drohende Apokalypse zu verkaufen, um völkerrechtswidrige Akte schön zu reden (Der Wille zum Krieg triumphiert über das Recht).

Ein Gefahrenverkäufer bleibt Bush I. weiterhin: Wenn die neuen alten bösen Mächte im Irak Massenvernichtungswaffen hätten, "wäre" das eine globale Gefahr. Doch derzeit dürften die höchst konventionellen Waffen konventioneller Guerilleros, die gestern in Bagdad erschienen und heute in Istanbul zuschlagen, erheblich größere Probleme bereiten als Massenvernichtungswaffen im überquellenden Arsenal der präsidialen Möglichkeitsform.

Der Kampf gegen Schattenkrieger

Die ohnehin von großen Teilen der Irakis ungeliebten Besatzer werden mit den jetzt einsetzenden, immer drakonischeren Vergeltungsmaßnahmen auch ihre letzten fragilen Sympathien einbüßen. Doch nicht nur der Ansehensverlust quält, der Besatzer zu den Leuten macht, die sie in den Augen ihrer Widersacher ohnehin immer schon waren. Die militärischen Möglichkeiten, gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen, der im Land auftaucht und verschwindet, sind - wie Bush schon von Napoleon I. und anderen vormaligen Herren der Welt hätte erfahren können - höchst begrenzt bis sinnlos.

Gerade die "Entortung" des Partisanen, die Carl Schmitt für eine herausragende Eigenschaft dieses an sich "terranen Kämpfertypus" hielt, lässt die neuesten Wutstrategien der US-Armee wie die Operation "Ivy Cyclone", Gebäude zu zerstören, so hilflos erscheinen (Präzision mit eisernem Hammer, Feuer, Efeu und Wirbelsturm). Ein Militärsprecher begründete die nun einsetzende Offensive nach dem Sieg mit der originellen Botschaft, dass die Iraker wissen sollen, dass die alliierten Truppen keine Angriffe gegen sie dulden werden. Hat das Partisanen oder Terroristen je davon abgehalten, ihrem Handwerk nachzugehen oder nicht gerade angestachelt? Wird nicht jeder gelungene Anschlag auf die Besatzer zu einem weiteren Einberufungsbefehl für das Herr der Unzufriedenen und Feinde Amerikas? Mit der besseren Moral war Feinden noch nie beizukommen, was unter anderem dazu führte, die Lehren vom gerechten Krieg gründlich zu vergessen.

Der "Krieg der Ideen", von dem Bush zuvor kündete, ist der alten neuen Vietnam-Strategie des "search and destroy" nicht zu entnehmen. War das militärische Großreinemachen gegen eine reguläre Armee eine Art Kurzurlaub mit Gefahrenzulage, ist der Kampf gegen diese Krieger, die nun zu Partisanen mutieren, das härteste Geschäft. Der deutsche General Helmut Staedke definierte das 1956 so:

Partisan ist der Kämpfer der...neun Zehntel einer Kriegführung, die nur das letzte Zehntel den regulären Streitkräften überlässt.

Diesmal könnte es umgekehrt sein: Die ersten zehn Zehntel hat Bush erfolgreich absolviert, nun muss er nur noch den Rest seines Krieges nach seinem Ein-Zehntel-Sieg führen. Denn er und sein Freund Blair geben sich unbeirrt: "Wir bleiben, bis der Job erledigt ist."

Wer hier bagatellisierend von "Job" redet, könnte an kognitiver Dissonanz leiden. Die Entschlossenheit der beiden Männerfreunde hat al-Qaida nun mit den Anschlägen in Istanbul kommentiert, die nicht zuletzt deutlich machen, dass diese Gruppe nicht wesentlich geschwächt ist, obwohl der aufwändige Antiterrorkampf bereits in das dritte Jahr geht. Die Mobilisierungseffekte für zum heiligen Kampf gegen den Westen Entschlossene sind auf Grund solcher spektakulären Gewalttaten kaum absehbar.

Und hier endet denn auch der historische Vergleich mit Vietnam, denn das neue Vietnam ist im globalen Maßstab der Terroristen überall. Ché Guevara forderte im guten alten Weltrevolutionspathos seiner Tage: "Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams." Es wird zur Ironie der Geschichte, dass seine sozialistische Botschaft im Geiste Trotzkis nun ausgerechnet bei terroristischen Fundamentalisten angelangt ist, die dieses Ziel erreichen könnten, das weiland ein leerer Appell blieb, weil es in Zeiten des Kalten Kriegs keine echte Perspektive dafür gab.

Von Bagdad nach Stambul

Die bushistische Antiterrorstrategie ist zum Scheitern verurteilt, wenn politische Lösungen nicht in greifbare Nähe rücken. Bushs amerikanischer Internationalismus stößt an die ohnehin engen Grenzen seiner Logik, die schon bald die seiner Logistik sein könnten, wenn immer neue Krisenherde weltweit hinzukommen. Die Komplexität dieses sich in diesen Tagen wieder aufheizenden Konflikts lässt sich weder mit einem hybriden Technologiekrieg und schon gar nicht mit martialischen Formeln, die Bush noch nicht ausgehen, lösen.

Dieser Präsident, der sich zum Kriegspräsidenten berufen fühlt und jüngst seine Formel der Weltbefriedung qua Krieg wiederholte (Im Auftrag der Weltgeschichte), ist bereits recht klein geworden. Inszenierte er sich zuvor als der Herr der Welt, der selbstgerecht nur zwischen Vasallen und Widersachern unterschied, lernt er jetzt die fortgeschrittenen und quälenderen Kapitel der Macht kennen, die hinter gloriosen Auftaktveranstaltungen und regulären Kriegen zwischen ungleichen Gegnern stehen.

Terroristen werden zu Helden des Befreiungskampfes

In Amerika schwindet die Akzeptanz mit jedem gefallenen GI. Der Partisanenkrieg ist wie schleichendes Gift, das vielleicht nicht den unbeugsam auftretenden Präsidenten, aber Zivilgesellschaften lähmen kann. Außenpolitisch steht es um Bushs Kampf nicht besser. Die Vasallen sind keine, sondern entpuppen sich als Interessenwalter, die das amerikanische Selbstbereicherungsspiel im Irak nicht oder nur höchst bedingt mitmachen. Bei seinen geliebten Freunden muss sich der Präsident im Buckingham-Palace verschanzen, während der Bürgermeister von London ihn in aller Öffentlichkeit als "Bedrohung für das Leben auf diesem Planeten" beschimpft.

Die Zahl der Widersacher ist im Verlauf des bushistischen Zivilisationsrettungsprogramms noch größer geworden. Denn die Feinde im Irak sind keine Spießgesellen des globalen Terrorismus, mehrheitlich keine Gefolgsleute von al-Qaida, sondern Saddam-Getreue, Amerika-Hasser, militante Schiiten und Fundamentalisten. Hier wie in anderen Partisanenkriegen könnte sich die ironische Moral der Geschichte erfüllen, dass der Guerillero schließlich trotz fragwürdigster Motive zum Helden wird, der nationalen Boden gegen die Eroberer verteidigt.

Gerade dieser Etikettenschwindel von Terroristen wird der islamistischen Fundamentalisierung einen Auftrieb geben, der zu Zeiten der Herrschaft Saddam Husseins unter der Machtglocke des Potentaten verhindert wurde. Saddam Hussein selbst aber war für Bush nie gefährlicher als heute, als toter oder lebender Mann des Untergrunds - und der Unterschied verkümmert zur quantité négligeable. Saddam Hussein, der noch kurz vor Kriegsbeginn gewimmert haben soll, bereit war, sämtliche Forderungen des stolzen US-Präsidenten zu erfüllen, selbst einen Last-Minute-Frieden anstrebte, ist erst jetzt der Gegner geworden, der Bush so gefährlich wird, wie es der Präsident im Gegensatz zu seinen öffentlichen Verlautbarungen wohl nie zu glauben vermocht hätte.

Die Torheit der Herrschenden als höhere Vernunft der Geschichte?

Bush hat die Gefahren vermehrt, die er doch bis an das Ende der Tage der Menschheit austreiben wollte. Mit dem Antiterrorkampf ist die Welt nicht nur in dieser Region, sondern augenscheinlich auch an allen anderen Orten des Globus unsicherer geworden. Bush in London über seine Intimfeinde:

Sie hassen freie Nationen. Ihre Grausamkeit ist ein Teil ihrer Strategie. Die Terroristen wollen uns demoralisieren.

Wenn er das doch alles weiß, sollte er nicht weiter unberechenbare Schattenkrieger mit Feuer und Schwert bekämpfen, sondern das Übel als politische Aufgabe begreifen. Stattdessen gilt heute wie damals: Morgen wird alles anders.

Das war auch die Lehre in Vietnam, solange Amerika seine Lektion nicht gelernt hatte. In Vietnam brauchte es lange Jahre zu begreifen, dass es dieses Morgen, das die Strategen auf dem Schlachtfeld mit Bomben entworfen hatten, nicht geben würde. Auch während dieses Krieges wurde die Machtausübung, mit einem unbeugsamen Feind doch endlich fertig zu werden, immer besinnungsloser:

So wie sie diesmal bombardiert werden, sind diese Bastarde noch nie bombardiert worden.

US-Präsident Nixon, kurz vor Ende des Kriegs

Bush kann den selbst gewählten Weg des Übels aus eigener Kraft nicht mehr verlassen, weil seine Glaubwürdigkeit an den gebetsmühlenartig wiederholten Zielen der amerikanischen Weltbefriedungspolitik klebt. Auch das ist die Lehre von Vietnam, demnach die Mächtigen nicht mächtig genug waren, ihr Gesicht zu verlieren - wie es Barbara Tuchman in "Die Torheit der Regierenden" darlegte. Tuchman meinte, gegenüber der historisch perennierenden Torheit der Macht hätte es immer Alternativen der Vernunft gegeben, die nicht erkannt wurden.

Doch ist es nicht vielmehr so, dass die Geschichte die jeweiligen Herren der Welt immer mit der notwendigen Torheit ausstattet, damit die Machtkonglomerate schließlich wieder zerfallen, so wenig die Zustände oft wünschbar waren, die danach folgten? Das zumindest wäre eine plausiblere Geschichtslogik, die weniger auf menschliche Vernunft als auf menschliche Dummheit vertraut. Denn letztere hat das erheblich größere Potenzial und darin könnte eben doch wieder eine höhere Vernunft stecken.