Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik

Neuheit und Wiederholung

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"Im großen und ganzen wird man in der Literatur [...] unter dem Stichwort Aufmerksamkeit vergeblich suchen", stellt Georg Franck zu Beginn seiner jüngst erschienenen Monographie1 fest, obgleich angesichts einer langjährigen "Hochblüte des inszenierten Auffallens" nichts näher läge. Beachtung finde das Phänomen aber bislang nur in den "Klatschspalten" der Medien, nicht dagegen in der "Wissenschaft".

Florian Rötzer2 teilt diese Einschätzung, aber so gering ist das Interesse am Thema denn doch nicht. Über Aufmerksamkeit wird seit Jahrhunderten nachgedacht - und seitdem erfährt man nicht viel Neues.

Was fällt auf? - Philosophische Reflexionen

"Aufmerksamkeit aber, als eine empirische Bestimmung unserer Seele, ist durch natürliche Mittel zu erregen", bestimmt Fichte 1792 in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung3 das für das Phänomen typische Verhältnis der psychischen Disposition zu einem äußeren Reiz. Über die "Mittel", die der Erregung dienen, sind sich die Philosophen aller Lager weitgehend einig: Es sei das Neue, was unwiderstehlich Aufmerksamkeit erzeuge. Der Rationalist Leibniz etwa zeigt sich schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts überzeugt davon, daß ein Gegenstand, der den "Reiz der Neuheit verloren" hat, "nicht stark genug" sei, "um unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis die sich nur mit fesselnderen Gegenständen befassen, auf sich zu ziehen".4 Der attraktivere Reiz macht das Rennen auf Kosten der übrigen Data.

Der Empirist Hume hofft, daß seine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes "Aufmerksamkeit erregen" wird, "da sie neu ist". Dieser taktische Hinweis scheint ihm mehr wert zu sein als der auf ihre Wahrheit.5 Auch Herder wiederholt gelegentlich diese Grundüberzeugung: "Durch Reisen und Lesen ist allem Bösen und Guten fremder Nationen die Tür geöffnet, und wenn es sich durch den Namen Geschmack, »neuer, fremder Geschmack,« Aufmerksamkeit erwerben kann, so hat es ohne weitere Überlegung die Menge für sich."6 Symptomatisch ist, daß Herder hier die große "Menge" anführt, deren Aufmerksamkeit von der schieren Neuheit der Sache zu fesseln ist, ohne daß zwischen Reiz und Reaktion eine "weitere Überlegung" stattfände.

Diese Analyse klingt noch heute, zweihundert Jahre später, nur allzu vertraut. Ins selbe kulturkritische Horn stößt auch Rousseau in seinem Erziehungsprogramm Emil, wenn er beklagt, "daß der Geschmack bei einer zu übertriebenen Verfeinerung, die die Aufmerksamkeit auf Dinge lenkt, welche die meisten Menschen gar nicht gewahren, allmählich entartet."7 Der derart degenerierte Geschmack bedürfe dann immer wieder neuer Reize - wer nicht ‚entarten' will, muß sich vor den Stimuli hüten, die seine Sinne erst abstumpfen und dann nach neue Sensationen gieren lassen. Man kennt diesen Diskurs aus der Debatte um Sex und Gewalt im Film, deren Überzeugungen also bereits aus dem 18. Jahrhundert stammen. Vor der attraktiven Fassade des Neuen warnt auch Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation. Zwar reize etwa "das unbekannte Wort durch seinen fremden, vornehmen und wohltönenden Klang" die "Aufmerksamkeit", doch müsse der Rezipient sich hüten anzunehmen, "was so hoch töne, müsse auch etwas hohes bedeuten".8

Man sieht, bei aller Einigkeit darüber, daß die Dinge "durch ihre Neuheit [unsere] Aufmerksamkeit"9 eher und intensiver errege als das Alte, Gleiche oder Bekannte, gibt es Differenzen in der Bewertung dieses Reizes: Herder, Fichte oder Rousseau vermuten hinter dieser Weise, Aufmerksamkeit zu binden, einen Taschenspielertrick, da hinter der reizvollen Fassade sich oft nichts als Substanzlosigkeit oder Schlimmeres verberge; Hume und Leibniz dagegen scheinen in der Neuheit einen wichtigen Alliierten in der Werbung für ihre philosophischen Programme zu sehen. Der Geist der Leser müsse gleichsam erst gefesselt werden, um dann belehrt zu werden. Die Struktur dieser Sichtweise stammt aus der rhetorischen Tradition: der Redner gebraucht nicht nur schlagende Argumente, um zu überzeugen, sondern schmückt seine Rede auch aus, um die attentio des Publikums zu erhalten.

Bei den zitierten Bemerkungen ist die Aufmerksamkeit, die sich der Neuheit verdankt, eine Art Appellfunktion der Gegenstände: das Neue selbst macht uns aufmerksam, es ist eine Eigenschaft der Objekte. Man weiß zum anderen aber auch, daß Aufmerksamkeit vom Subjekt aufgebracht und dann an seine Umwelt verschenkt wird. In Lukrez' De rerum naturae (ca. 55 v. Chr.)10 findet sich unter dem Titel Über Wille und Aufmerksamkeit eine frühe Reflexion auf ihre psychologische Struktur. Dort heißt es:

"Siehst du nicht auch, wie das Auge sich spannt und den Willen darauf lenkt,
Wenn es begonnen den Blick auf zarte Gebilde zu richten?
Ohn' ein solches Bemühn ist deutliches Sehen nicht möglich.
Kann man doch selbst erfahren, daß deutlich erkennbare Dinge,
Wenn sie der Geist nicht beachtet, so gut wie dem Blicke entrückt sind
Während der ganzen Zeit und in weiteste Ferne verschlagen.
Weshalb soll es nun wunderbar sein, daß dem Geiste das andre
Alles verloren geht, nur das nicht, worauf er sich einstellt?"

Die attentio animi hat also entscheidend daran Anteil, welchen Ausschnitt der Wirklichkeit unsere Wahrnehmung erfaßt und welcher andere Teil - obschon gegeben - abgeblendet wird. Aufmerksamkeit ist ein Fokus, der scharf stellt und deshalb zugleich alles, worauf der ‚Wille das Auge nicht spannt', aus den Kreis des Sehens herausfallen läßt. Bei der Aufmerksamkeit, so Lukrez, kommt es eben auf die ‚Einstellung' an, nicht auf die Sache. Man würde heute formulieren: Aufmerksamkeit ist ein Filter oder Selektor. Von hier aus ist es nicht sehr weit zum Begriff der Konzentration, der ja nichts anderes bedeutet als die Fokussierung des Geistes auf einen Gegenstand unter Weglassung alles anderen. Die Philosophen, Pädagogen und Theologen fordern allenthalben in diesem Sinne Aufmerksamkeit von ihren Lesern in der Überzeugung, daß die Bündelung des gesamten geistigen Potentials auf ein einziges Objekt nötig ist, um ihm gerecht zu werden - während zerstreute Leser dagegen nichts lernen, da sie ihre Aufmerksamkeit verteilen und damit schwächen. Die Definitionen bei Leibniz können für diese Auffassung als exemplarisch gelten: "Wir haben auf diejenigen Gegenstände Aufmerksamkeit, welche wir von den übrigen unterscheiden und ihnen vorziehen. [...] Diejenige Aufmerksamkeit, deren Zweck ist zu lernen (d.h. Erkenntnisse zu erwerben, um sie zu behalten), heißt Studium."11 Konzentrierte Aufmerksamkeit führt so zum Studium, umgekehrt gilt das Gegenteil: "Es ist ja auch ein Mittel, sich einzuschläfern, daß man die Aufmerksamkeit verteilt, um sie zu schwächen."12

Aufmerksamkeit gilt also schon Leibniz als ein knappes Gut, das nicht vermehrt, sondern nur verteilt werden kann: Konzentrierte Aufmerksamkeit beobachtet einen Gegenstand genau, ignoriert aber alles übrige; freischwebende Aufmerksamkeit dagegen registriert allerhand, aber nur traumwandlerisch und oberflächlich, nicht jedoch nachhaltig oder gar wissenschaftlich. Heute würde man das reizüberflutete Kid vor der Multi-tasking-Maschine dem Wunschbild des gesammelten, nur einer Sache gewidmeten Rezipienten entgegenstellen. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit ist Konzentration, die das Subjekt dem Gegenstand entgegenbringt; die vagante Aufmerksamkeit des Flaneurs dagegen läßt sich von einem Gegenstand fesseln und vom nächsten ablenken. In beiden Fällen aber ist, nach einer Bemerkung Rousseaus13, die "Neugier" des Beobachters die Voraussetzung für die "Aufmerksamkeit", der Unterschied liegt in den Temporalverhältnissen: die Neugier des Wissenschaftlers muß ausdauernd sein; für den neugierigen Müßiggänger reicht dagegen ein Augenblick, um den Reiz zu konsumieren. Auch diese Differenzen haben sich bis in die aktuelle Diskussion um "aktive" (Internet, "pull") und "passive" (TV, "push") Mediennutzung erhalten.

Unsere Aufmerksamkeit kann aber nicht nur durch Neuheit erregt werden, sondern auch durch ihr kaum beachtetes Gegenteil: die Wiederholung. Wiederholungen fallen deshalb auf, weil sie in der Natur gewöhnlich nicht vorkommen und unmittelbar den Anschein des Künstlichen erwecken. Wo Wahrnehmung und Bewußtsein des Menschen Formen bemerken, die sich wiederholen, wird in der Regel auf Zwecke und Absichten geschlossen: so konnte man sich etwa die Regelmäßigkeit der Marskanäle nicht ohne intelligente Urheber vorstellen. Einen gradlinigen Kanal hätte man dem Zufall zuschreiben können, doch die Geometrie der Wiederholung erheischte eine andere Erklärung. Daß Redundanzen in unserer Alltagswelt beachtet werden, macht sich auch das Älteste und wichtigste Medium der menschlichen Gesellschaft zunutze: die Sprache.

Die akkurate Wiederholbarkeit ihrer Zeichen unterscheidet sie von anderen Geräuschen. Gesprochene Sprache erregt unsere Aufmerksamkeit, da auch ihren Lauten ohne weiteres eine Intention zugesprochen wird, die uns angeht. Wiederholungen fallen auf. Sie scheinen immer absichtlich zu erfolgen. Wenn einem der eigene Name zu zweitenmal hinterhergerufen wird, hat man Gewißheit, auch gemeint zu sein. Von dieser Fassung der Aufmerksamkeit aus gesehen, ließe sich behaupten, daß etwas absolut Neues nicht die geringste Beachtung finden wird, da es sich nicht von zufälligen Einmalereignissen abhebt. Da es ohne Vorbild ist, fehlt dem Beobachter des Neuen die Möglichkeit, es wiederzuerkennen. Aufmerksamkeit erzeugt das Neue dagegen nur als Innovation, also als Variation von etwas schon Bekanntem, somit letztlich als Differenz von Varietät und Redundanz.

Der Prediger Salomon hat mit seiner berühmten Bemerkung, es gebe nichts Neues unter der Sonne, vollkommen recht, denn das wahrhaftig Neue würde unser Aufmerksamkeit entgehen und erst in der Wiederholung auffallen. Das singulär Neue also bliebe so unauffällig wie eine repetitive Endlosschleife langweilig. Beidem wird keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Dagegen fallen bekanntlich schwarze Lämmer mehr auf als weiße. Um aufmerksam zu machen, braucht das Neue eine Folie des Vertrauten und die Redundanz benötigt variierende Abweichung, frei nach Goethes Überzeugung, daß "eine neue Art, das Gewohnte zu tun, immer wieder frische Aufmerksamkeit" erzeuge.14

So gegensätzlich das Neue und die Wiederholung sich gegenüberzustehen scheinen, sie kommen in der Form der Aufmerksamkeit zur Einheit. Das Neue und die Wiederholung machen zwei Seiten einer Unterscheidung aus, die erst als Differenz Aufmerksamkeit erzeugt. Vergleichbares findet man in der Definition des Zeichens als Einheit der Unterscheidung von Signifikant und Signifikat oder der Kommunikation als Einheit der Differenz von Information und Mitteilung. Die eine geht nicht ohne die andere, ohne daß deswegen beide Seiten aufeinander reduziert werden könnten. Eine Kommunikation ist nie pure Information allein, stets läßt sich auch eine Weise ihrer Mitteilung feststellen. Nie hat das Zeichen nur immateriellen Sinn, immer ist es auch spezifisch materialisiert. Die Aufmerksamkeit derart als "Zwei-Seiten-Form" zu verstehen, bedeutet, daß sich keine Seite der Unterscheidung verändern läßt, ohne die gesamte Form zu modifizieren. So verändert sich etwa die Kommunikation, wenn wir dieselben Geburtstagsgrüße nicht mit einer Glückwunschkarte versenden, sondern als Email, einen Brief nicht mit der Hand schreiben, sondern mit dem PC, obgleich der mathematische Informationswert der Zeichenkette jeweils derselbe bleibt. Deshalb ist Aufmerksamkeit nicht identisch mit dem "Neuigkeitswert" einer "Information", wie Georg Franck meint15, sondern die Einheit einer Differenz. Aber wozu dieser Aufwand? An der Videoinstallation news von Julian Rosefeldt und Piero Steinle (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 14. 7. - 12. 8. 1998) möchte ich vorführen, warum es sich lohnen könnte, Aufmerksamkeit als Differenz von Neuheit und Redundanz aufzufassen.

"News" - Dekonstruktion der Aufmerksamkeit bei Rosefeldt & Steinle

Nachrichtensendungen heißen Tagesschau, Aktuelle Kamera, Heute oder RTL aktuell. Diese Namen enthalten das Versprechen, daß es hier um News geht, um Neuigkeiten vom Tage. Täglich wird in den Nachrichten der verschiedenen Sender und Kanäle berichtet, immer zur selben Zeit, immer in derselben Länge. Wir sind eingestellt auf 15 Minuten Neuigkeiten pro Tag. Niklas Luhmann erinnert daran, wie fragwürdig es tatsächlich ist, daß sich jeden Tag gerade soviel Neues ereignen soll, daß es die Hauptnachrichten füllt.

Wir sind an tägliche Nachrichten gewöhnt, aber man sollte sich trotzdem die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit einer solchen Annahme vor Augen führen. Gerade wenn man mit Nachrichten die Vorstellung des Überraschenden, Neuen, Interessanten, Mitteilungswürdigen verbindet, liegt es ja viel näher, nicht täglich im gleichen Format darüber zu berichten, sondern darauf zu warten, daß etwas geschieht und es dann bekannt zu machen. So das 16. Jahrhundert in der Form von Flugblättern, Balladen, Kriminalgeschichten aus Anlaß von Hinrichtungen etc.16

Die Nachrichten-Formate der Massenmedien scheinen sich zumindest soweit von den Ereignissen emanzipiert zu haben, daß sie jeden Tag dasselbe Quantum News verbreiten können. Die hohe Aufmerksamkeit, welche die Nachrichten nicht nur im Fernsehen jeden Tag durch den Verweis auf ihre Aktualität für sich reklamieren und erhalten, ist unabhängig davon geworden, was sich in der Welt an Neuem ereignet hat. Piero Steinle vermutet, daß die Fernsehnachrichten zwar "naiv proklamieren, das täglich Neue und Aktuelle zu zeigen", tatsächlich aber "in diametralem Gegensatz zu ihrem Namen und Anspruch" stehen.17 Was aber erzeugt dann die Aufmerksamkeit für die News, wenn nicht der ‚Neuigkeitswert' der Nachrichten? Die Installation "News" von Rosefeldt und Steinle gibt darauf eine deutliche Antwort: das Prinzip der Wiederholung.

Die Künstler haben aus den Archiven der deutschen TV-Nachrichten Bild- und Tonmaterial zu Sequenzen zusammengestellt, die das täglich Neue als Wiederkehr des Immergleichen entlarven: Politikertreffen, Katastrophen, Wetterberichte, Schlußverkäufe und vieles mehr aus vierzig Jahren News flimmern über zwei gigantische Leinwände. Die Sequenzen sind thematisch gruppiert und heben hervor, was sonst nicht auffällt - - oder doch nur einem Zuschauer mit sehr gutem Gedächtnis - aber die News setzen keinen Rezipienten mit guter Mnemotechnik voraus, denn sie leben ganz im Aktuellen. Nichts ist uninteressanter als die Meldung von gestern. Wir implizieren hier und im weiteren einen Durchschnittsrezipienten, der nicht mit professionellem Interesse Sendungen speichert und zu Beobachtungen zweiter Ordnung schreitet.

Was neu und aktuell zu sein scheint, hat sich schon tausendfach so abgespielt: immer wieder schütteln sich Politiker die Hände, immer wieder schwenkt die Kamera vom Redner auf das Publikum oder auf die Kameras und Mikrophone der übrigen Medienvertreter, immer wieder landen und starten Flugzeuge, immer wieder stürmen Menschenmengen durch die Kaufhaustüren auf die Sonderangebote zu, immer wieder stehen Autoschlangen im Urlaubsstau. "Verfolgt man diese Inhalte über die Jahre, dann entpuppen sie sich vielfach als Varianten identischer Ereignis- und Kommentierungstypologien".18 Was auch an "Überraschenden, Neuen, Interessanten, Mitteilungswürdigen" in der Welt stattgefunden haben mag, stattfindet oder noch stattfinden wird: es wird in einem dieser Klischees gesendet oder überhaupt nicht.

Eine die Videosequenzen begleitende Tonspur, die dutzendfache Minimalvariationen etwa von Staumeldungen, von der Atmosphäre eines politischen Treffens oder von Todesanzeigen hören läßt, verdeutlicht die Dominanz des medialen Formats über das Ereignis, den Triumph des redundanten Rahmens über die Einmaligkeit der Dinge. Obschon kein Zweifel daran bestehen kann, daß alles, was sich in der Welt ereignet, zur selben Zeit nur einmal ereignet und daher neu ist19, verblaßt die externe Referenz aller Nachrichten angesichts ihrer Sequenzierung, welche dafür ihre vergessene Form deutlich hervortreten läßt. "Als Elemente einer seriellen Reihung offenbaren die Nachrichtenfragmente noch deutlicher ihren formalen Charakter, in der steten Wiederholung verlieren sie vollends ihre Bedeutung."20

Die Videoinstallation News inszeniert geradezu Luhmanns These von der "evolutionären Unwahrscheinlichkeit" täglicher Nachrichten. Sie legt die Überlegung nahe, daß sich die Aufmerksamkeit in den Massenmedien nicht der Neuigkeit der Ereignisse verdankt, sondern durch bestimmte Formate generiert wird. Nicht das Ereignis macht die Headline, sondern die Plazierung der Nachricht auf der ersten Seite verwandelt sie in einen Aufmacher; nicht die politische Äußerung ist so merkwürdig, daß sie aufmerksam macht, sondern der Kameraschwenk vom Politiker über lauschende oder applaudierende Gäste und mitschreibende Journalisten verschafft jedem Statement erst die erwünschte Beachtung. Nicht die Information informiert, sondern ihr "Rahmen"21 hebt sie hervor und sorgt für Anteilnahme. "Eine Information", schreibt Rosefeldt, "die nicht in unendlicher Wiederholung verbreitet wird, wird nicht wahrgenommen und somit - im Sinne des Wortes - auch nicht als wahr genommen." Beachtung und Interesse erhalten Ereignisse also nur dann, wenn sie ein geeignetes Nachrichten-Format finden.

Ich will hier nicht behaupten, daß der große Stellenwert des medialen Formats der News jede Auswahl der Ereignisse überflüssig machte. Ganz im Gegenteil herrscht dabei größte Sorgfalt. Selektiert werden "Aufmerksamkeitsfänger"22, die besonders in der Lage sind, als Nachricht oder Bericht zu überraschen:

"Die Überraschung wird durch markante Diskontinuität verstärkt. Die Information muß neu sein. Sie muß mit bestehenden Erwartungen brechen oder einen offen gehaltenen Raum begrenzter Möglichkeiten (Beispiel: Sportereignisse) determinieren. Wiederholungen von Meldungen sind unerwünscht."

Dies klingt zunächst, als bestätige hier der Soziologe noch einmal die althergebrachte Ansicht von der Aufmerksamkeitserzeugung durch Neuheit und formuliere so die genaue Antithese zu den Behauptungen des Künstlerduos. Doch Luhmann fährt fort:

"Bei Neuheit denkt man zunächst an Einmalereignisse. Aber das Erkennen von Neuheiten erfordert vertraute Kontexte. Das können Typen sein (Erdbeben, Unfälle, Gipfeltreffen, Firmenzusammenbrüche) oder auch temporäre Geschichten, zum Beispiel Affairen oder Reformen, zu denen jeden Tag etwas Neues zu berichten ist, bis sie sich mit einer Entscheidung auflösen. Auch gibt es Serienproduktion von Neuheiten, etwa an der Börse oder beim Sport, bei denen jeden Tag etwas Neues anfällt. Überraschungen und Standardisierungen steigern sich aneinander."

Massenmediale Aufmerksamkeit wird also durch eine Kombination von Neuheit und Redundanz erzeugt. Dabei spricht alles dafür, daß in den Massenmedien die Seite der Redundanz über die der Neuheit dominiert, mit anderen Worten, daß die systeminterne Aufbereitung der News die Selektion der Nachrichtenereignisse bestimmt. Die medieninternen "Selektoren" entscheiden in letzter Instanz über das, was dann als neu gilt, und nicht irgendein den Ereignissen selbst inhärenter Sensationswert, obwohl die Medien zugleich das Gegenteil behaupten. Wie weit die Selektionskriterien greifen, läßt sich leicht daran ermessen, mit welcher verblüffenden Übereinstimmung auf allen Nachrichtenkanälen dasselbe gesendet wird - trotz der täglichen schier unzählbaren Ereignisse und trotz fehlender Vorwegabsprachen.

Auch Kunstwerke verschaffen sich Aufmerksamkeit, und auch in ihrem Fall geht es um eine wechselseitige Steigerung von Neuheit und Repetition oder, im kunstspezifischen Vokabular formuliert, um die Kombination von spezifischer Originalität und generellem Stil. Das Kunstwerk ist originell, also neu, aber zugleich doch so redundant, daß es einem Stil oder einer Epoche zugeordnet werden kann. Wie schon im Fall der Massenmedien scheinen Beobachter der Kunst aber ebenfalls die Seite des Neuen in den Vordergrund zu stellen: "Das Kunstwerk ergibt sich nicht im Laufe des Wahrnehmungsvollzugs, es sucht geradezu aufzufallen; es hat etwas Unerwartetes, etwas Unerklärliches, oder wie man auch sagt, etwas Neues an sich."23 Hier scheint es schwierig zu werden, Kunst und Massenmedien zu unterscheiden, denn was Luhmann über die Neuheit der News schreibt, stellt er auch als Eigenschaft der Kunst heraus: "Schon im 16. Jahrhundert häufen sich die Hinweise darauf, daß Neuheit eine Bedingung dafür sei, daß Kunstwerke überraschen - und gefallen." (S. 324) Allerdings kann nicht alles Neue oder ausschließlich Neues Kunst sein (vgl. S. 327).

Was die Form der Aufmerksamkeit betrifft, fallen zwei Unterschiede zwischen Massenmedien und Kunst auf.24 Der erste basiert auf einer technischen Differenz: Die Sendungen der elektronischen Massenmedien werden in aller Regel nicht gespeichert, sondern sind instantane Einmalereignisse (Im Falle der Printmedien ist eine Mehrfachlektüre zwar leichter möglich, doch werden die meisten Zeitungen wohl nach der Lektüre weggeworfen.) Die News gelten nur zum Zeitpunkt ihrer Ausstrahlung als neu und aktuell - und ihr hoher Aufmerksamkeitswert mag sich wenigstens zum Teil auch ihrer Vergänglichkeit verdanken. Kunst dagegen führt im Normalfall zu dauerhaften Werken, die über den Zeitpunkt ihrer Schöpfung hinaus Beachtung finden, ja, die Aufmerksamkeit für Kunstwerke scheint mit ihrem Alter sogar noch zuzunehmen, während ‚old news' bekanntlich ‚no news' sind. Die vielbeklagte Musealisierung der Kunst sichert offenbar die Vergleichbarkeit der Werke, so daß das Prädikat ‚neu' zu einem kunsthistorischen Urteil zu werden vermag, das die Innovativität des Kunstwerks in seinem Entstehungskontext festhält.

Die technische Unterscheidung zwischen der ereignishaften Kommunikation der Massenmedien und der "Kompaktkommunikation"25 der Kunst ermöglicht die Differenz zwischen der Einmalrezeption der massenmedialen Sendung und der Mehrfachrezeption des Kunstwerks, die Leibniz' Unterscheidung zwischen konzentrierter und zerstreuter Aufmerksamkeit wiederholt. Die auf ihren Überraschungseffekt hin formatierten News verbrauchen ihren Neuigkeitswert im selben Moment, in dem sie gesendet und rezipiert werden.

Das Geständnis eines Politikers, Ehebruch begangen zu haben, oder die Mitteilung eines Schlagerstars, homosexuell zu sein, überrascht nur ein einziges Mal und kann daher als Nachricht nicht wiederholt - wohl aber noch oft und unterschiedlich kommentiert werden. Aber auch diese Kommentare und Meinungen stehen dann unter dem Druck, neu und originell zu sein; auch sie sind sofort zerfallende Kommunikationen, die in Echtzeit im Wortsinne konsumiert werden: Die Kunstwerke der Moderne weist dagegen eine "Ambiguität" auf, die eine "Mehrzahl möglicher Lesarten" erfordern.26 Die Nachrichten, aber auch die Unterhaltungssendungen der Massenmedien sind nach Luhmanns Ansicht auf einmalige Neuheit, auf Überraschung, auf Spannung aus und lassen daher im Gegensatz zur Kunst "keine zweite Lektüre" lohnenswert erscheinen: man kennt die Pointe, die Wiederholung langweilt. Wer dennoch ein zweites Mal hinschaut, interessiert sich nicht für die verbrauchte Information oder die gealterte Neuheit, sondern etwa für die Machart, das "artistische Geschick" oder die "Darstellungsleistungen". Ein solcher "ästhetische" Rezipient würde, wie Rosefeldt und Steinle in ihrer Installation, zur Beobachtung der Form der Massenmedien gelangen. Und es ist genau die "Formbildung" des Kunstwerks, die "Überraschung bewirkt und Varietät garantiert"27, während die Massenmedien die Redundanz ihrer Formen abblenden.

Die Werke der modernen Kunst gehen nicht in einem "Informationswert" auf, der im Moment der Rezeption verbraucht wäre. Die Ambiguität des Kunstwerks, die Art, wie es gemacht ist, seine Form, die Mitteilungsseite der Kompaktkommunikation will beachtet sein. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten für das Werk wird von seinen Formen in es hineingezogen. Er steht vor der potentiell unendlichen Aufgabe, die "selbstrestringierende Operationssequenz aus Formen"28 danach zu beurteilen, ob die vom Kunstwerk selbst gestellte Aufgabe gelöst wurde oder nicht. Denn da das Kunstwerk eine künstliche Schöpfung ist und daher in jedem Detail auch anders denkbar wäre, muß sich jede einzelne Formwahl fragen lassen, warum sie so und nicht anders ausgefallen ist. Es muß möglich sein, "Operationen nicht nur als Serie von situationsabhängigen Zufällen zu beobachten, sondern auch als Realisation eines Programms".29 Das Kunstwerk selbst übernimmt die Verantwortung über Form und Inhalt. Die Massenmedien dagegen dunkeln die Artifizialität ihrer Kommunikation ab und verlagern die Haftung für ihre Inhalte auf die Welt, wenn sie "proklamieren [...] die Realität zu zeigen und nicht als die Realität".30 Das Neue will man den Ereignissen zu verdanken haben, man scheint nur wiederzugeben, was ohnehin passiert. Daß die Realität der Massenmedien eine kontingente Konstruktion ist, wird nicht mitgesendet; die Redundanz der Formate, die Aufmerksamkeit erst erzeugen, fallen selbst nicht auf, da kein Zuschauergedächtnis die verpuffenden Einmalkommunikationen memoriert, um dann nach wiederkehrenden Schablonen zu fahnden. Dazu bedarf es schon "eines medienwissenschaftlichen Forschungsprojekts", des Zugangs zu den Archiven und eines "digitalen Schnittplatzes" oder eben der Kunst.31

Kunstwerke bleiben geduldig an ihrem Ort, verharren in der Zeit, lassen sich prüfen und vergleichen. Sie entziehen ihre Form nicht der Beobachtung, sondern stellen die Bedingungen ihrer Entstehung selbst mit aus. Moderne Kunst zumindest führt offensiv genau das vor, was die Massenmedien meisterhaft zu verbergen verstehen: das Primat der Form über den Inhalt, der Mitteilungsart über den Informationswert. Das Maß an Redundanz in einem Kunstwerk - etwa Zitate, Anspielungen auf andere Werke, genutzte Stilelemente, hineincopiertes und collagiertes Material - wird nicht hinter dem überraschenden Neuigkeitswert eines Ereignisses versteckt, sondern der Mehrfachrezeption ausgesetzt. Die Aufmerksamkeit, welche die Massenmedien scheinbar durch ihre immer aktuelle Neuheit erzeugen, tatsächlich aber den Schablonen ihrer Formate zu verdanken haben, ist in der Kunst eine andere. Moderne Kunstwerke erheischen eine Aufmerksamkeit, die beide Seiten der Differenz zu beobachten versteht: Innovation und Redundanz. Die Aufmerksamkeit der Kunst wird daher nicht in einer einmaligen Sensation verbraucht, sondern lenkt den Blick in das Werk hinein auf die Sequenz seiner Formen und bindet so Zeit. Die "künstlerische Leistung" wird darum "nicht nach dem Auffälligkeitseffekt" bewertet, sondern "nach dem Einsatz der künstlerischen Mittel".32 Wer dafür Aufmerksamkeit aufbringen will, braucht Zeit - und bekommt sie auch. Der Aufmerksamkeit der Massenmedien dagegen genügt die Gegenwart (Interessanterweise nähern sich gerade jene Sendungen, die oft wiederholt werden: Musikvideos und Werbefilme, der Kunst an).

Aufmerksamkeit für Politik - in Massenmedien und Kunst

Feudale oder absolutistische Herrschaft benötigte keine Massenmedien, um Aufmerksamkeit zu erwecken; die ‚schönen Künste' dienten ihr zur Selbstinszenierung und partizipierten zugleich am Glanz des Zentralgestirns, das sie repräsentierten. Doch teilten die vormodernen Künste von der Poesie bis zur Architektur, vom Gartenbau bis zu Malerei und Plastik mit ihrem Nachfolger, den Massenmedien, das Prinzip der Redundanz, denn sie waren durch kanonisierte Regeln auf bestimmte Weisen der höfischen Repräsentation festgelegt: Die Künste erzeugten Aufmerksamkeit durch die schablonenhafte und regelmäßige Visualisierung der Macht des Herrschers.

Besonders der absolutistische Staat Frankreichs und seine deutschen Nachahmer demonstrieren ihre Bedeutung in Form von Gemälden, Schlössern, Parkanlagen, "Turnier, Tanz und Theater", die sich weniger in ihren Formen als in ihren Kosten unterschieden.33 Carl Schmitt schreibt über das Regierungs-"Pathos" der "absoluten Fürsten im 17. und 18. Jahrhundert", es werde "am besten in dem Katalog der repräsentativen Prädikate dieser Fürsten sichtbar, die sich und ihre persönliche Umgebung mit Worten wie majestas, splendor, excelentia, honor und gloria umkleiden." Diese Attribute des genus grande, der höchsten Stillage der Rhetorik, erheischen traditionell äußerste Beachtung. Auch wenn der Fürst abwesend ist, sind seine Symbole an allen Orten der Repräsentation präsent. Die "republikanisch-demokratische" Kritik des Obrigkeitsstaates hat entsprechend versucht, diese Art der ästhetischen "Repräsentation des Fürsten als bloßes Theater zu entlarven" und der "Repräsentation des Fürsten und seines Hofes die demokratisch mit sich selbst identische Präsenz des homogenen Volkes" entgegenzusetzen.34

Das Prinzip der Selbstinszenierung der Macht durch die Künste gerät am Ende des 18. Jahrhunderts aus politischen und ästhetischen Gründen in eine letale Krise. Der Repräsentation der Macht setzt wohl als erster Rousseau die Anwesenheit des Souveräns entgegen:

"In dem Augenblicke, wo das Volk als oberherrlicher Körper gesetzmäßig versammelt ist, ruht jegliche Befehlshabergewalt der Regierung, ist die vollziehende Gewalt aufgehoben und die Person des geringsten Bürgers ebenso heilig und unverletzlich wie die des höchsten Staatsbeamten, weil in der Anwesenheit des Vertretenen es keine Vertreter mehr gibt."35

Die hier anvisierte Politik unmittelbarer Volksherrschaft bedarf nicht länger der Aufmerksamkeitserzeugung durch die Künste, noch durch andere Medien, weil Volk und Herrscher eins geworden sind in der gesetzgebenden Versammlung aller Bürger. Jede Vermittlung zwischen der "Volksversammlung" und der "Regierung" wird daher überflüssig. Rousseaus Konzept einer direkten, unmittelbaren Demokratie hat sich allerdings als unpraktikabel erwiesen. Der Souverän kann nur bei kleinen staatlichen Gebilden anwesend sein, um bei Entscheidungen mitzuwirken oder um über Entscheidungen informiert zu werden. Was über die Politik von Dorfbürgermeistern hinausgeht, bedarf der Vermittlung. Demokratische Politik in Flächenstaaten ist eine der Volksvertreter - und findet deshalb aus eigener Kraft keine Aufmerksamkeit.36 Nicht das Volk, sondern seine Stellvertreter handeln politisch, und weil das Volk nicht anwesend sein kann, wenn über seine Belange entschieden wird, müssen Medien die Vermittlung zwischen den politischen Organisationen und den Wählern übernehmen.

Die Künste, derer sich der Fürst bedient hat, um die gottgewollte Unterscheidung zwischen sich und seinen Untertanen in Szene zu setzen, eignen sich dazu nicht länger. Denn nicht nur die Politik, auch die Kunst hat sich in der Moderne von externen Instrumentalisierungen emanzipiert. Kunstwerke, die sich der distanzlosen Repräsentation der Macht verschrieben haben, gelten nun als mediokre Propaganda. Unter dem Gesichtspunkt der Aufmerksamkeitserzeugung ließe sich vermuten, daß die moderne Kunst als Mittler der Politik deswegen nicht taugt, weil sie den Blick auf ihre Formen lenkt und die Art enthüllt, wie ihre Effekte erzielt werden. Sie löst sich von den Techniken der rhetorischen Persuasion und reflektiert ihren Stil, statt sich mit der Überwältigung der Rezipienten zu begnügen.

Wenn Kunst Aufmerksamkeit als Differenz von Innovation und Redundanz erzeugt und dadurch Mehrfachrezeption einfordert, läuft jede etwaige politische ‚Botschaft' des Kunstwerks Gefahr, ihre eigene Attraktivität einzubüßen. Dies ließe sich selbst an so eminent ‚politischen' Werken wie Picassos Guernica oder den im Auftrag von DDR-Institutionen angefertigten Panoramen Werner Tübkes vorführen. Moderne Kunst ist - anders als die Massenmedien - dekonstruktiv, da sie ihre Artifizialität vorführt und erkennen läßt, daß eine andere Formwahl möglich gewesen wäre. Dieses Ausstellen von Kontingenz ist das genaue Gegenteil von Propaganda, Werbung oder Rhetorik. Die Aufmerksamkeit, die moderne Kunst auf die Kontingenz ihrer Formen lenkt, paßt daher nicht zu den Inszenierungswünschen der Politik - man erinnere sich nur an die peinliche Lage, die sich für die SPD ergab, als die Regieanweisungen für ihrem Parteitag in Hannover bekannt geworden waren. Diesen Durchblick auf die Bedingungen ihrer Inszenierung hat sich die Parteiführung kaum gewünscht.

Da Armee, Schulen und Kirchen in ihren Tätigkeiten mittlerweile parteipolitisch neutral geworden sind, bleiben zur Vermittlung der Politik allein die Massenmedien übrig. Ohnehin scheint keine Alternative in Sicht zu liegen: "Nahezu alle Bürger", stellt Hans Matthias Kepplinger (Professor für Publizistik, Mainz) in einem Beitrag für die FAZ (13. 8. 1998) fest, nehmen "die Politik nur durch die Darstellung der Medien wahr". Daraus folgt für die Politik zumindest, daß sie sich den Gesetzen der Aufmerksamkeitsproduktion in den Massenmedien anzupassen hat. Georg Franck geht sogar noch weiter: "Die Politik bezieht aus den Medien ihre Themen und will in ihnen verkauft sein. Ja mehr noch: Sie wird in den und für die Medien gemacht. Was in den Medien nicht ankommt, hat in der Politik keine Chance mehr."37

Damit wird die bekannte Überzeugung von Jürgen Habermas aufgegriffen, daß die demokratische Politik als argumentativer Streit der Meinungen in der medialen bürgerlichen Öffentlichkeit der Zeitungen, Zeitschriften und Traktate entsteht, dann aber ihr Grundprinzip: die Publizität im Verlauf der massenmedialen Evolution, vor allem in Zuge des Aufstiegs der elektronischen Medien, in einen Markt der Manipulationen pervertiert.38 Die Medien stellen den politischen Meinungen nicht länger eine Öffentlichkeit zur Verfügung, vor deren Augen mit Argumenten solange gestritten wird, bis sich das beste bei einer Mehrheit durchsetzt; vielmehr wird die Öffentlichkeit nun von den Massenmedien unauffällig beherrscht, unbemerkt beeinflußt, insgeheim manipuliert.39 Womöglich liegt es aber an der Struktur der Aufmerksamkeitserzeugung in den Massenmedien selbst, daß es so scheinen muß, als ob die Medien vorsätzlich und bösartig den öffentlichen Austausch von Argumenten im Dienste rationaler Konfliktlösung verhinderten.

Das News-System der Massenmedien präsentiert Novitäten, Überraschungen, Erwartungsbrüche und blendet Redundanzen aus. Die Neuigkeit, so wurde oben gezeigt, wird von den Medien den Ereignissen selbst zugeschrieben, über die berichtet wird, während der ideale Rezipient mit der vagierenden Aufmerksamkeit des Flaneurs zuschaut, die ohne Gedächtnis auskommt. Politik muß neu und anders sein, um Eingang in die politische Berichterstattung zu finden und Aufmerksamkeit zu erhalten; und der Zuschauer muß vergeßlich sein, um das täglich Neue nicht als verbrauchtes Altes wiederzuerkennen.

Im Bundestags-Wahlkampf der Parteien fiel eine medienkompatible Semantik der Veränderung, Bewegung, Innovation sofort ins Auge: Die CDU versprach "neue Arbeitsplätze", eine "Neue Kultur der Selbständigkeit", "Innovationen" jeder Art, "Innovationsdatenbanken", "Innovationsberatungsstellen", "neue Ausbildungsberufe", "neue und modernisierte Berufsbilder", "schnellere Verfahren" in der Verwaltung, "Zukunftstechnologien" sowie "die Multimedia-Plattform der nächsten Generation, das Internet 2". Der Koalitionspartner FDP, seit einem Vierteljahrhundert ununterbrochen an der Macht, gibt sich wie die Union innovationsbereit und erneuerungswillig. Sie verspricht eine "Neue Offensive für Privatisierung", eine "Reform der Tarifverträge", "Innovationen für Arbeitsplätze", "Innovation und Globalisierung in der Ausbildung", "Neue Technologien", einen "Neuen Föderalismus" oder auch eine "Reform der Strukturpolitik".

Nicht nur die Regierungsparteien klingen, als wollten sie nicht eine Wahl gewinnen, sondern einen Umsturz durchführen; auch die SPD versprach in allen Politikbereichen den "Wechsel". "Deutschland braucht", so das Credo, "eine neue Politik für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit", eine "neue Regierung", "Innovationen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft", eine "Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft", "Visionen", "neue Märkte", "Innovation und neue Technologien", eine "neue Gründerwelle", "Neue Perspektiven für den ländlichen Raum", eine "Neue Weltwirtschaftsordnung" und die "Neue Mitte: SPD". So entschlossen sich die Programme mit dem Gütezeichen "neu" etikettierten, so redundant wirkten sie bei näherer Betrachtung. Auch Die Grünen setzten auf das Neue: "Es ist Zeit für einen Wechsel. Die Bundesrepublik braucht eine neue, eine soziale und ökologische Politik. Die Herausforderungen eines neuen Jahrhunderts sind nicht mit den Konzepten von gestern und vorgestern zu bewältigen." Die "Zukunft" solle gestaltet werden durch "neue Arbeitszeitmodelle", eine "neue Politik" mit dem "Mut zum Neuen", "einen politischen Neuanfang", "neue Bau- und Werkstoffe", "neue Dienstleistungen und vieles mehr", "neue - grüne - Ideen", "ein neues Produktdenken, eine neue Philosophie industrieller Produktion", "eine neue Wettbewerbsordnung" und natürlich auch durch neue "Innovationspotentiale" und "Zukunftsfähigkeit". Die Wortfamilie des Neuen beherrschte die Präsentation der Parteien: nichts darf so bleiben, wie es ist, um massenmediale Aufmerksamkeit zu finden, und so versprachen selbst Kandidaten, die schon seit Jahrzehnten regieren, schon wieder den Aufbruch in die Zukunft.

Diese längst alltäglich gewordene Präsentation politischer Neuheiten bricht sich aber notwendig an der Alltagserfahrung einer weitgehend konstanten Lebenswelt. Das Publikum muß die Paradoxie aushalten, daß die Medien den Eindruck einer fluiden Gegenwart und beeinflußbaren Zukunft vermitteln "in einer Erfahrungswelt, die im großen und ganzen so ist und bleibt, wie sie ist."40 Schließlich selektieren die Medien nur Neues und Sensationelles - was die Erwartung permanenter Revolutionen verstärkt und Konstanzen abblendet.41 Die massenmediale Form der Aufmerksamkeit ist also offenbar geeignet für die Vermittlung von Politik und sie hat zudem den Vorteil, diese Aufmerksamkeit für beinahe Beliebiges zu wecken und noch das Gewöhnlichste als neu zu inszenieren, doch nur um den Preis, zwischen der medialen Vermittlung der Politik und der Alltagserfahrung eine Kluft zu errichten, die unüberbrückbar geworden zu sein scheint. Dennoch ist von einer "Anpassung der Politik an die Bedürfnisse der Medien" (Kepplinger) oder von einer Unterwerfung der Politik unter die "Zwänge der Aufmerksamkeitsökonomie"42 die Rede, doch müßte hier genauer formuliert werden: Anpassung der politischen Darstellung an die Medien, denn die politische Entscheidungsfindung folgt nach wie vor eigenen Spielregeln und findet eher in den parlamentarischen Ausschüssen oder bei Anhörungen mit Lobbyisten statt als vor laufenden Kameras.

Aufmerksamkeit ohne Massenmedien? Die Utopie der Cyberdemokratie

Es ist immer das Fernsehen, dem mindestens die Entfremdung der Bürger von der Politik, wenn nicht die Übernahme der Macht selbst vorgeworfen wird. Rainer Rilling hat in einem luziden Beitrag für Telepolis unter Berufung auf Robert Putnam die These vertreten, daß der Siegeszug des TV auf Kosten des politischen Engagements verlaufen sei.

"Betrachtet man das Zeitbudget, dann hat das Wachstum des TV-Konsums in den USA zu einem Viertel bis zur Hälfte zum Rückgang gesellschaftlicher und öffentlicher Tätigkeiten und zur Privatisierung der individuellen Zeit beigetragen. Was an Aufnahme politischer Informationen bleibt, kommt - wie gegenwärtig bereits für jeden zweiten Amerikaner unter 35 - aus dem Fernsehen. Es geht schon lange nicht mehr um die Passivität der bestenfalls symbolisches Feedback vortäuschenden ‚Zuschauerdemokratie' des TV-Systems, sondern um das Verschwinden demokratischer Kultur."

Insbesondere die Beteiligung der Bürger an Parteien und politisch aktiven Vereinen habe in den USA drastisch nachgelassen. Die unvermittelte Interaktion zwischen politischen Akteuren und Wählern sei vom nur ‚symbolischen Feedback' im Fernsehen abgelöst worden. Die Ausübung von Macht als Medienspektakel, wie es in jüngster Zeit zahlreiche Hollywood wie Wag the dog oder Primary colors und die Zippergate-Berichterstattung vorführten, werde nicht länger gegenbalanciert von einer breitgestreuten, unvermittelten politischen Aktivität der Bürger. Rilling sieht im Internet einen möglichen Ausweg. Die Politik könnte den Gesetzen der massenmedialen Aufmerksamkeitserzeugung entgehen, wenn sie es verstünde, im Internet direkt, ohne weitere Vermittlung durch Dritte, mit den Bürgern zu kommunizieren:

"Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen, kleine Verbände oder Betriebsräte werden kein Eigentum an Maschinen, Netzen, Kanälen und Kabeln erwerben können. Wie können sie Aufmerksamkeit auf sich lenken, sichtbar werden? [...] Es gibt dafür nur einen erfolgversprechenden Weg: Content-Provider der Wünsche und Interessen ihrer Mitglieder zu werden. [...] Das ist die politische Hauptaufgabe solcher Organisationen und hier stehen sie noch am Anfang. Warum gehört nicht zum Erwerb der Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaft das Angebot, auf einem Hausserver eine Home-Page einzurichten? Eine Zuverlässigkeitsbeglaubigung besonderer Art gibt es dann: die Information kommt direkt aus der Quelle und nicht von CNN oder dpa."

Die dezentralen, ‚interaktiven' technischen Möglichkeiten des Internets stimulieren die Revitalisierung der alten Utopie einer Politik, deren Agenten "unmittelbar" mit dem Volk kommunizieren.43 Daß das Angebot direkter und komplexer Information aus erster Hand allein allerdings keine besonders große Menge von Interessenten findet, weiß Rilling im Gegensatz zu den vielen anderen Internet-Demokraten. Die Masse der Daten, die schon heute auf den Servern der Parteien, Institutionen und Behörden abrufbar sind, ist unübersehbar groß und unattraktiv. Deshalb schlägt Rilling vor, über kostenlose Dienstleistungen Aufmerksamkeit einzuwerben, also "Content-Provider" zu werden. Die Partei mit den ambitioniertesten Foren, heißesten Tips, attraktivsten Chat-Groups und interessantesten Interna auf ihrer Homepage würde dann auch die meisten Links und also die größte Aufmerksamkeit auf sich lenken; nicht unbedingt auf ihre politische Arbeit, wohl aber auf ihr Logo, das alle Sites der Homepage schmücken wird. Man wird dann die Parteien mit Providern wie AOL oder T-Online vergleichen und Unterschiede zu vermissen beginnen, die über die Schriftzüge auf der Bannerwerbung hinausgehen.

Die Aufmerksamkeit wird in jedem und so auch in diesem Fall nicht von der Politik selbst erzeugt werden, sondern von Medien der Vermittlung, deren Regeln nicht von der Politik gemacht werden. Jedes Fußballspiel im Fernsehen und jede WEB-Site mit ‚nicht ziemlichen' Photos von Monica Levinsky ziehen beinahe beliebig viel Aufmerksamkeit von der Darstellung und Begründung politischer Entscheidungen ab. Man mag diese Präferenzen der User bedauern, aber man könnte auch die Freiräume erkunden, die sich für die Politik out of focus eröffnen. Dort könnte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den res publica zuwenden, ohne sich zu darum sorgen, unauffällig und unspektakulär zu wirken.