Am Anfang stand das Riechen

Wissenschaftler vermuten, dass das explosive Wachstum der Säugetiergehirne von der Verbesserung des Riechens ausgegangen ist

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Säugetiere sind Schnüffler. Und das Riechen soll die Säugetiere schlau gemacht haben. Zumindest soll die Entwicklung des Riechzentrums bei den Vorfahren der Säugetiere am Beginn der explosiv wachsenden Gehirne gestanden haben. Die Notwendigkeit, die Umwelt besser riechen zu können, scheint für die teils winzigen Vorfahren der Säugetiere einen evolutionären Vorteil mit sich gebracht haben, der dann zur weiteren Vergrößerung der Gehirne führte. Säugetiere haben nicht nur die größten Gehirne in Bezug auf die Körpergröße, bei ihnen ist auch der Neocortex entstanden.

Paläontologen unter der Leitung von Timothy Rowe von der University of Texas in Austin haben für ihre Studie, deren Ergebnisse in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurden, die Gehirne der frühen, mausähnlichen Säugetiere der Arten Morganuocodon und Hadrocodium, die zu Beginn des Jura vor 200 Millionen Jahren gelebt haben, mit der Computertomographie untersucht. Dabei stellten sie fest, dass sich die Gehirne in drei aufeinander folgende Stufen entwickelt haben.

Zunächst verbesserte sich der Geruchssinn, indem die die damit zusammenhängenden Gehirnareale und damit auch die Auflösung größer wurden. Das konnten die Wissenschafter freilich nicht direkt messen, sondern nur durch einen Schädelausguss im Vergleich mit anderen Schädeln von 7 Säugetiervorfahren und 26 Säugetieren erschließen. Das Gehirn von Morganucodon verdoppelte sich vor allem durch die Vergrößerung der olfaktorischen Areale, aber auch der Kortex und das Cerebellum wurden größer.

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Bild: Science

In der zweiten evolutionären Stufe verbesserte sich bei Hadrocodium die taktile Wahrnehmung der Körperhaare sowie der Haut und der Muskeln, was mit der Entwicklung des Neocortex einherging, in dem der somatosensorische Input in einem Körpermodell repräsentiert wird. Und in der dritten Stufe verbesserte sich die neuromuskuläre Koordination durch motorische Areale im Neocortex, wodurch eine genauere Kontrolle der Muskulatur erreicht wurde.

"Der verbesserte Geruchssinn, die verbesserte taktile Auflösung und motorische Koordination", so schreiben die Wissenschaftler, "tragen am meisten zum ersten Schritt in der Enzephalisierung der Säugetiervorfahren bei." Erst danach sollen sich Seh- und Hörsinn verbessert haben.

Die in der Aufklärung am höchsten eingestuften Sinne, die Anschauung und das Gehör wären also in der Evolution der Säugetiere und ihrer Gehirne die spätesten gewesen. Für Kant waren Geschmack und Geruch tiefere Sinne, weil sie subjektiver seien, vor allem aber, weil sie Nahsinne sind. Bei beiden müsse der "äußere Gegenstand" erst aufgenommen werden oder in den Körper eindringen, um wahrgenommen zu werden. Das ist unangenehm, weswegen die Grenzwahrnehmung des Taktilen als höherstehend eingeschätzt wird – und ganz oben die distanzierte Anschauung aus der Ferne steht. So sagt Immanuel Kant:

"Der Sinn des Gesichts ist, wenn gleich nicht unentbehrlicher als der des Gehörs, doch der edelste: weil er sich unter allen am meisten von dem der Betastung, als der eingeschränktesten Bedingung der Wahrnehmungen, entfernt und nicht allein die größte Sphäre derselben im Raume enthält, sondern auch sein Organ am wenigsten afficirt fühlt (weil es sonst nicht bloßes Sehen sein würde), hiemit also einer reinen Anschauung (der unmittelbaren Vorstellung des gegebenen Objects ohne beigemischte merkliche Empfindung) näher kommt."