Beugt sich die griechische Bevölkerung dem Druck von EU und IWF?

Außerparlamentarische Initiativen aus ganz Europa werben für Nein beim Referendum am Sonntag. Mittlerweile wird die Kritik an der Rolle Deutschlands lauter, das seine Schulden nie gezahlt hat

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1982 waren dem Magazin Der Spiegel die Szene-Gerüchte um den Container-Jo, der bei SPD-Rechten und linken AKW-Gegnern gleichermaßen unbeliebt war, eine eigene Kolumne wert. Wer hätte gedacht, dass der Bewegungsfunktionär mit SPD-Parteibuch drei Jahrzehnte später die griechische Bevölkerung via Deutschlandfunk auffordern wird, Opfer für Europa zu bringen?

Das von der griechischen Regierung anberaumte Referendum am nächsten Sonntag kommentierte Leinen am Montag so:

Wir stehen an einem Scheideweg, und da muss man sich entscheiden: Will man dieses historische Projekt weiterführen? Will man wirklich der Welt zeigen und auch den eigenen Menschen, dass die Einheit Europas ein höherer Wert ist, für den man auch Opfer bringen muss?

Opfer für Europa habe auch Irland gebracht, weisen Journalisten die griechische Regierung zurecht. Nur sie vergessen hinzuzufügen, dass die einkommensschwachen Menschen, die dafür bezahlen mussten, dort nicht gefragt wurden, ob sie dazu bereit sind. Schließlich ist diese Aufforderung zum Opfer für Europa nur die modernisierte Version der Opfer für das Vaterland. Europa hat in dieser Erzählung die Rolle der jeweiligen Heimatländer eingenommen.

Auch im nationalen Rahmen war und ist es nicht üblich, diejenigen, die die meisten Opfer bringen müssen, zu fragen, ob sie mit dem Programm einverstanden sind, das ihnen diese Opfer auferlegt. So wird auch das griechische Referendum entweder als Zeichen von Tsipras Gerissenheit oder Unfähigkeit gedeutet.

In dieser Lesart muss zu den Fähigkeiten eines guten Politikers gehören, der großen Bevölkerungsmehrheit Wahlversprechen zu machen und diese dann mit dem Verweis auf die kapitalistischen Sachzwänge zu ignorieren. Damit die große Mehrheit dazu bereit ist, muss der Politik eine mehr oder weniger große Prise Nationalismus, Sozialchauvinismus und bei Bedarf Antisemitismus beigemischt werden.

Tsirpras hatte in der letzten Woche durchaus mit der Versuchung gespielt, viele Wahlversprechen aufzugeben, um zu einem Einvernehmen mit den Institutionen zu kommen. Dann wäre er zu einem der vielen sozialdemokratischen Politikern geworden, die vor der scheinbaren Macht des Faktischen eingeknickt sind. Wir wissen nicht, was Tsipras letztlich vor diesem Schritt zurückschrecken ließ.

Vielleicht war es das Wissen darum, dass ein Einknicken die Spaltung von Syriza und das Scheitern eines vor allem in Südeuropa mit viel Aufmerksamkeit verfolgten Aufbruchs bedeutet hätte. In seiner Erklärung zur Ankündigung des Referendums teilte der griechische Ministerpräsident mit:

Von der griechischen Regierung wurde verlangt, einen Vorschlag zu akzeptieren, der neue unerträgliche Belastungen des griechischen Volkes kumuliert und den Aufschwung der griechischen Gesellschaft und Wirtschaft untergräbt, indem er nicht nur die Ungewissheit aufrecht erhält, sondern auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten noch mehr aufbläht.

Botschaft der Würde für Europa?

Damit geht Tsipras natürlich ein hohes Wagnis ein. Er beruft sich nicht nur auf die jahrelangen Kämpfe gegen die Austeritätspolitik, ohne die Syriza nie zur Regierungspartei geworden wäre, sondern auch auf die griechische Demokratie und beschwört ein anderes Europa. Es muss sich nun zeigen, ob er damit die griechischen Wähler überzeugt.

Jetzt hoffen die Hüter der Austeritätspolitik in Europa, vor allem in Deutschland, dass die griechische Bevölkerung zermürbt von den vielen Opfern, die sie schon bringen müssen, nun freiwillig das Einverständnis für ein weiteres Diktat der Institutionen gibt, danach die Regierung zurücktritt und nach Neuwahlen die alten Parteien wieder an die Regierung kommen. Dann würde sich das Europa der Austerität bestätigt sehen und zur Tagesordnung übergehen.

Es ist dasselbe Europa, das Tsipras Vorvorgänger von der sozialdemokratischen Pasok zum Rücktritt zwang, nachdem er ebenfalls ein Referendum über das EU-Diktat angekündigt hatte. Dass Tsipras trotzdem nicht zögerte, die Bevölkerung zu befragen, spricht für ihn. Er gehört noch nicht zu den Politikern, denen der Machterhalt über alles geht. So hat er auch erklärt, dass seine Regierung natürlich akzeptiert, wenn die Bevölkerung den EU-Plänen zustimmt. Nur dann soll es nicht seine Regierung sein, die diese Politik umsetzt.

Wenn er im Ernstfall dabei bleibt, erteilt er all jenen sozialdemokratischen und linksreformistischen Politikern eine Lektion, die immer betonen, wie ungern sie bei der Umsetzung einer konservativen Politik mitmachen würden und sich damit entschuldigen, dass sie doch vielleicht einige soziale Spuren hinterlassen würden. Die Wähler allerdings geben dann lieber den konservativen und wirtschaftsliberalen Originalen den Vorzug und so führt jede linke Mitverwaltung der Austeritätspolitik zu einem Rechtsruck in der Gesellschaft.

Großbritannien, Finnland, Österreich und zuletzt Dänemark lieferten Beispiele dafür. So haben Tsipras und Syriza mit dem Schritt zum Referendum den Weg geöffnet, dass sie selbst nach einer Niederlage bei der Abstimmung als glaubwürdige Alternative bestehen können, die dann eben wieder Politik aus der Opposition macht. Vielleicht besteht darin die Botschaft der Hoffnung der Würde über Europa hinaus, die Tsipras jetzt leidenschaftlich beschwört.

Nein zur Erpressung durch EU und IWF

Noch ist das Referendum nicht entschieden. Gegen den Druck sämtlicher EU-Instanzen versucht auch in Deutschland ein Bündnis für ein Nein zum EU-Diktat zu werben. Auch ein europäischer Aufruf mobilisert für ein Nein beim Referendum.

Schon wird der 5. Juli, der Tag des Referendums, zum Tag des Wandels in Europa erklärt. Trotz allen Pathos würde natürlich eine Ablehnung der EU-Pläne durch die griechische Bevölkerung linken Bestrebungen in Spanien und anderen europäischen Ländern Auftrieb geben.

Deutschland hat nie bezahlt

Auch der französische Ökonom Thomas Piketty, der mit seinen Schriften über die wachsende Ungleichheit Schlagzeilen machte, gehört zu den Gegnern der europäischen Austeritätspolitik und kritisiert dabei besonders die Rolle Deutschlands. Auf die Frage, ob er sich freue, dass sich die französische Regierung entgegen ihrer Wahlversprechen der deutschen Austeritätspolitik unterordnet, antwortet Piketty:

Keinesfalls. Das ist weder für Frankreich noch für Deutschland und schon gar nicht für Europa ein Grund zur Freude. Vielmehr habe ich große Angst, dass die Konservativen, insbesondere in Deutschland, kurz davor sind, Europa und die europäische Idee zu zerstören - und zwar aufgrund ihres erschreckenden Mangels an geschichtlichem Erinnerungsvermögen.

Dann gibt Piketty seinen deutschen Lesern eine historische Lektion mit auf den Weg:

Wenn ich die Deutschen heute sagen höre, dass sie einen sehr moralischen Umgang mit Schulden pflegen und fest daran glauben, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, dann denke ich: Das ist doch ein großer Witz! Deutschland ist das Land, das nie seine Schulden bezahlt hat. Es kann darin anderen Ländern keine Lektionen erteilen. Weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Dafür ließ es andere zahlen, etwa nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870, als es eine hohe Zahlung von Frankreich forderte und sie auch bekam. Dafür litt der französische Staat anschließend jahrzehntelang unter den Schulden. Tatsächlich ist die Geschichte der öffentlichen Verschuldung voller Ironie. Sie folgt selten unseren Vorstellungen von Ordnung und Gerechtigkeit.

Mit dieser Einschätzung dürfte Piketty mit dem Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner vom AK Distomo einig sein, der sich seit Jahren dafür einsetzt, dass die Opfer der deutschen NS-Herrschaft über Griechenland entschädigt wird. In einer Pressemeldung schrieb der Arbeitskreis.

Es ist paradox. Griechenland braucht Geld. Dabei hat es Guthaben. Das Guthaben liegt in Deutschland und - als deutsches Staatseigentum im Ausland - in verschiedenen (europäischen) Ländern. Deutschland schuldet Griechenland seit ca. 70 Jahren eine Summe, die heute auf bis zu 575 Milliarden Euro geschätzt wird.

Der aktuelle Kampf der griechischen Regierung hat die Forderungen nach Reparationen und Entschädigung etwas in den Hintergrund gedrängt. Am Montag fand in Berlin ein von der Linksfraktion veranstaltetes Hearing unter der Überschrift "Ungesühnt, aber Unvergessen - Deutsche Verbrechen in Griechenland und die Frage der Reparationen" statt.

Die drei zentralen Fragen, die dort von Historikern, Politikern und Angehörigen von Opfern diskutiert wurden, lauteten: Ist die Reparationsfrage erledigt? Dürfen Nazi-Opfer auch nach 70 Jahren noch Wiedergutmachung verlangen? Darf Deutschland die Zwangsanleihe behalten?“

Die Referenten betonten die Notwendigkeit von Reparationen, Entschädigung und Rückzahlung der Zwangsanleihen. Es ging den aus Griechenland angereisten Angehörigen nicht um das Geld, sondern um die Gerechtigkeit für die Opfer. Doch alle Referenten zogen auch Parallelen zur aktuellen Politik.

So wies der griechische Rechtsanwalt Sarantos Theodoropoulos darauf hin, dass bereits vor mehr als 70 Jahren NS-Funktionäre die Zwangsanleihe damit rechtfertigten, dass nur so Griechenland seinen Verpflichtungen, damals für Nazideutschland, nachkommen könne. Theodoropoulos nannte diese Zwangsanleihe denn auch sarkastisch "unser erstes Memorandum".

Wenn eine solche Sichtweise in größeren Teilen der griechischen Bevölkerung verankert ist, gibt es vielleicht doch die Hoffnung, dass sie mehrheitlich den aktuellen Memoranden ihre Zustimmung verweigern.