Das gute Amerika

Nostalgie im Unglück - eine Erinnerung von Clint Eastwood bei den Filmfestspielen von Cannes.

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Es ist das Ellroy-Country, das Clint Eastwood in seinem neuen Film Changeling betritt, eine Geschichte aus der Zeit, als Männer noch Hüte trugen, das "Los Angeles Police Departement" (LAPD) unter dem Kommando ihres berüchtigten "Chief Davis" stand, und sich von den Verbrecherbanden nur durch die schlechtere Bezahlung unterschied. Der Kriminalschriftsteller James Ellroy hat davon in seinen zum Teil verfilmten ("LA Confidential", "The Black Dahlia") Romanen, wie in Sachbüchern ("Die Rote") und Reportagen ausführlich erzählt.

"Changeling“, bis zu seiner heutigen Premiere im Wettbewerb von Cannes noch irreführend als "Mystery"-Thriller angekündigt, geht auf tatsächliche Ereignisse und auf den bizarren Fall des zehnjährigen Walter Collins und seiner Mutter Christine zurück - und damit auf einen der spektakulärsten Kriminalfälle der 20er Jahre: Im März 1928 verschwand Walter spurlos von Zuhause. Seine alleinerziehende Mutter erstattete Vermisstenanzeige. Im August 1928 fand man einen Jungen, der behauptete, Walter zu sein.

Changeling. Bild: Universal Pictures
Changeling. Bild: Universal Pictures

Unglaublich, aber wahr: Obwohl die Mutter insistierte, es handle sich nicht um ihren Sohn, und dabei von Zeugenaussagen wie Indizien unterstützt wurde, erklärte das seinerzeit durch und durch korrupte LAPD den Fall für geschlossen - um negative Publicity zu vermeiden. Die Mutter wurde widerrechtlich in die Psychiatrie eingewiesen - nach zehn Tagen kam sie auf öffentlichen Druck wieder frei. Der Fall wurde zum landesweiten Skandal und löste eine umfangreiche Untersuchung der LAPD-Aktivitäten aus, die unter anderem mit der Absetzung von "Chief Davis" endete. Kurz darauf stellte sich heraus, dass Walter Collins eines der Opfer des "Wineville Chicken Mörders" wurde.

Angelina Jolie spielt Christine Collins, John Malkovitch einen sozial engagierten Pastor, der gegen Polizeikorruption kämpft. Unter Eastwoods souveräner Regie ist "Changeling" ein gelungener Thriller, der vor allem durch den Wahrheitsgehalt seiner auf den ersten Blick atemberaubend irrealen Geschichte besticht.

Neben dieser ist Eastwood spürbar an Parallelen zur Gegenwart interessiert: Einer empörend handelnden und abgrundtief korrupten Obrigkeit steht in "Changeling" eine funktionierende Zivilgesellschaft gegenüber, die mit Hilfe sozial engagierter "Populisten", kostenlos arbeitenden Staranwälten, einer an Aufklärung und Systemkritik interessierten Medien-Öffentlichkeit und eines völlig unabhängigen Justizapparats den Fall aufklärt, die Schuldigen bestraft und den Opfern Genugtuung gibt. Das durch und durch idealisierte Wunschbild eines "guten Amerika", das schon historisch nicht den Tatsachen entspricht, aber als Gegenentwurf zum Bush-Country taugt.

Im Unglück der Christine Collins findet Eastwood Grund zur Nostalgie. Was er allerdings verschweigt: Nur vier Jahre nach seiner Absetzung wurde "Chief Davis" 1933 wieder eingesetzt.