"Du Stefan, ich hol schon mal den Panzer..."

"Nein Harry, Du musst die Brücke halten" - Anmerkungen zur SS-Vergangenheit von Oberinspektor Derrick

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"Ist das nicht schrecklich? Wo man hinhört - Mord." (Frau Huberti in Folge 152, "Der Tote auf der Parkbank")

"Komm!", war sein erstes Wort. Eine Verheißung. Ein Aufbruch. Die Hoffnung mehr auf ein Einverständnis als auf Aufklärung. Derrick war schon immer einer von uns. Er wollte nicht mehr sein als wir, nie mit der Arroganz der Jugend über ältere Generationen richten. Jeder ist ein Sünder, wie er etwa in Folge 272 ("Hölle im Kopf") feststellte oder in Folge 89 ("Stunde der Mörder"): "Man ist ja durch ein tiefes Loch gegangen ... Man hat es auszuhalten gehabt bis zur Betäubung". Oder: "Es gibt Menschen, die sind umgeben von Illusionen, und da finden dann ganz andere Wahrheiten statt." (Folge 213: "Eine eiskalte Nummer")

Sein Schöpfer Herbert Reinecker war ein Tiefenbohrer der deutschen Psyche, ein Volksaufklärer im doppelten, abgründigen Sinn. Bevor er den "Derrick" ("Derrick" heißt auf Englisch und Französisch "Bohrturm"), den "Kommissar" und das "Traumschiff" schuf, da war er für andere Dinge verantwortlich. Die hießen "Das Dorf bei Odessa", "Leuchtfeuer" und "Junge Adler", und Reinecker hieß nicht "Derricks Vater", sondern "Schriftleiter". Und wer weiß, ob sie sich nicht doch auch schon damals persönlich begegnet sind, im Frühsommer 1943, bei der Heeresgruppe Mitte.

Im grünen Wald: Die Weltcreme der Weltmörder

"Lieber Herr Frenzel, einen Gruß an sie aus einer dollen Gegend: Urwald, Sumpf, Mücken, Russen - das sind unsere Feinde. Eine ganz wilde Art von Krieg wird hier geführt. Waldkämpfe von der übelsten Sorte. Panzer einzusetzen lohnt sich nicht - der Sumpf. Stukas? Lohnt nicht - der Wald hat keine Ziele. So bleibt nur Mann gegen Mann." (2.Juli 1941, Feldpostnummer 053/96 A; Soldat Herbert Reinecker)

Von Anfang an war Reinecker dabei in Russland. Dreimal lesen wir im hier zitierten Brief von der Front das Wort Wald. Und im Wald blieb Reinecker stecken. Im Wald hatte Reinecker dem Bösen ins Auge gesehen. Seitdem wusste er: "Ein Mörder ist ... eine Fehlinvestition der Natur, ein Krebsschaden der Gesellschaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kriminalität unser Schicksal ist, unser Weltschicksal." (Herbert Reinecker, zitiert im WDR). Er wusste aber auch: "Ich spreche die Deutschen, die ich kenne, die ich liebe, frei vom Mordvorwurf, nicht von ihren Irrtümern, die sie bei Gott bis zum Übermaß büßen, aber niemand, der solchen Mord wollte, niemand, einfach niemand, bis auf diejenigen, die nun wirklich zur Weltcreme der Weltmörder gehören." (Herbert Reinecker in seiner Autobiographie von 1990).

Die erste Derrick-Folge hieß "Der Waldweg" - schon wieder Wald. Der Titel ist auch eine offene Anspielung auf einen folgenreichen Essay des Frontkämpfers Ernst Jünger mit dem Titel "Der Waldgang". Hierin geht es in der unmittelbaren Nachkriegszeit um das Problem: "Wie verhält sich der Mensch angesichts und innerhalb der Katastrophe?" (Sämtl. Werke 7 S. 317). Und immer wieder musste Derrick dann nach Grünwald! Als "Waldgänger" beschriebt Jünger einen Menschen, der sich gedanklich unabhängig hält von der umgebenden Gesellschaft und zum Widerstand fähig ist. Er meinte offensichtlich nicht Oberinspektor Derrick.

So wie der "Kommissar" Herbert Keller immer noch vom Ausnahmezustand gezeichnet war, ein Ruhepol im Sturm der Geschichte, so war Derrick der Normalfall. Für ihn galt daher ein anderer Satz aus dem "Waldgang": "Im allgemeinen bilden die Institutionen und die mit ihnen verknüpften Vorschriften gangbaren Boden; es liegt in der Luft, was Recht und Sitte ist. Natürlich gibt es Verstöße, aber es gibt auch Gerichte und Polizei" (S. 361).

Der Wiederhersteller

Er war der Wiederhersteller. Der Tröster. Derrick war ein großer Mann mit dunkler Stimme. Vertrauenerweckend. Kaum je machte er von seiner Dienstwaffe Gebrauch. Nie zeigt er eine menschliche Schwäche; und die Schwächen der anderen hat er nüchtern akzeptiert. Nüchternheit, Sachlichkeit, Gefühllosigkeit fallen in eins.

Ein Sachbearbeiter, Unterabteilung Schadensabwicklung, einer, der die Vergangenheit, die nicht vergehen will, nicht leugnen möchte, aber auch nicht bewältigen, sondern der verstehen will, und der alles verstehen kann, zuvorderst die Täter. Einer, der nicht verurteilt, nicht straft, sondern ihnen zuhört, endlich. Und dessen wasserblaue Augen so ganz anderes gesehen haben: Den Kessel von Charkow, die Wolga bei Bjelgorod, brennende Panzer, brennende Menschen.

Er hieß Oberinspektor. So etwas gab es bekanntlich nicht. Wir vom Polizeibataillon München 1 ahnten, dass da eigentlich ein Obersturmbannführer gemeint war. Der Krieg hatte ihn nie losgelassen, er fand nur jetzt nicht mehr im Wald von Charkow statt, sondern in Grünwald. Das muss angesichts der schlichten Fakten eigentlich klar werden: In den 281 Folgen der 24 Derrick-Jahre wurden die Mordopfer 167 Mal erschossen! 38 Mal erstochenen, es folgen 14 Vergiftungsfälle und zweimal Tod durch Erhängen.

Stephan Derrick fügt sich in die anderen von Vergangenheit und Verdrängung gezeichneten Staatsdiener des Nachkriegszeitfernsehens: Die Frontkämpfer Trimmel, Finke und Lutz, die Söhne Schimanski und Haferkamp und vor allem Herbert Keller, der einst im Berliner Bunker als Funker des Führers Dienst getan hatte und am 30.4.1945 den Tod Hitlers den Deutschen verkündete. Er war "Der Kommissar" an sich, Vater und Kommandeur, Beichtvater und der "Chef". Kommissar, das ist in Deutschland immer der Staat selbst, Vater Staat.

Aber wo waren da die Mütter, "unsere" Mütter? "Soll ich Ihre Mutter rufen? Sie ist unten!" Dies fragt drohend Stephan Derrick den von Sascha Hehn gespielten jungen Mörder (Folge 52, "Ein unheimliches Haus"), und man könnte sich in Hitchocks "Psycho" versetzt fühlen. Die Mutter? Unten? Etwa im Keller? möchte man in Reineckerscher Manier nachfragen und ertappt sich bei der Überlegung, ob etwa auch der Name des "Kommissar" noch eine zweite tiefere Bedeutung hat? "Keller". Ausgerechnet der Mann, der tatsächlich im Keller der Reichskanzlei des Führers letzter Funker war? Verweist auch er auf all das Verdrängte, Abgekapselte, im Keller des "Unter"Bewusstseins der Psyche gut Verstaute?

Derrick, der Mann mit dem seltsamen, nach Osteuropa schmeckenden Namen, ist der Bohrturm in diesen Keller hinein. Nicht zu tief wird gebohrt, gerade so tief, dass am Schluß der Täter dingfest gemacht wird und gesteht. Dafür geben wir ihm unser Verständnis. Denn auch der Täter ist einer von uns. Aber nie sind wir alle schuld, immer nur einer. Wir übrigen waren nur dabei, sind mitgelaufen für 60 Minuten. Die Beichte des Täters am Schluss, hervorgekitzelt, oder erzwungen durch den verständnisvollen SS-Obersturmbannführer Derrick ist auch ein Surrogat für die ausbleibende, immer ausgebliebene große Beichte der Tätergeneration.

Auch ein Surrogat für Derricks eigene Beichte. Er, der vom Führer mit dem Totenkopf des SS-Panzergrenadierregiment 1 "Totenkopf" in den Kampf um den "Endsieg" geschickt wurde, und dabei wer weiß was erlebt hatte, kommandierte nun kameradschaftlich den HJ-Pimpf Harry Klein, der zuvor unter Bernhard Wicki "Die Brücke" bis zum letzten Mann verteidigt und den sinnlosen Kampf als einziger überlebt hatte. Nie sprachen die beiden die beiden über die Vergangenheit. Wissen heißt schweigen, verstehen heißt verzeihen. Ein nachkriegsdeutscher Volkssturm, ein Männerbund des Schweigens.

"Soll ich Ihre Mutter rufen? Sie ist unten!" - Ist gut, Stephan.