Gerüchte und religiöser Wahn

Ägypten: Was wahr ist und was inszeniert, ist kaum voneinander zu unterscheiden. Die Spannungen zwischen Kopten und Muslimen können von vielen Interessen bedient werden

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13 Tote, über 200 Verletzte, 190 Personen, die vor Militärgerichte kommen, eine Demonstration vor der amerikanischen Botschaft in Kairo, ein Sit-In tausender Kopten vor dem staatlichen Fernsehsender, die Bewaffnung von Nachbarschaftsgruppen, um Kirchen und Gemeindmitglieder zu schützen, Angst und Horror und Befürchtungen sind die Folgen eines Gerüchts in Ägypten: Dass eine Christin zum Islam übergetreten sei, woraufhin man sie entführt habe und nun gegen ihren Willen in einer Kirche gefangen halte.

Zwei Kirchen wurden aus diesem Grund am Wochenende in Imbaba, einem Vorort Kairos angegriffen. Eine wurde in Brand gesteckt; Hintergründe und Abläufe der Ausschreitungen sind ebenfalls so sehr in der Gewalt von Gerüchten, dass die Wahrheit schwer zu ermitteln ist, wie Beobachtungen vor Ort, etwa von der ägyptischen Bloggerin Zeinobia, veranschaulichen. Zu dem Zunder gehört ein Pulverfass und das sind die angespannten Beziehungen zwischen Kopten und Salafisten insbesondere in Imbaba, einem Wohnviertel im Großraum Kairo, welches drei mal so dicht besiedelt sein soll wie Manhattan. In früheren Jahren hatte es laut einer New York Times- Reportage "Islamische Republik von Imbaba" zum Spitznamen, andererseits gilt Imbaba auch als Gegend der Kopten. Spannungen verbreiten sich in dem dichtbesiedelten Vorort sehr rasch, das zeigte sich am Wochenende.

500 ultrakonservative Salafisten sollen sich am Samstag vor der Kirche "Saint Mina" versammelt haben, um die Freigabe der "gekidnappten Frau" zu verlangen, berichtet al-Jazeera; es dauerte nicht lange, bis es zu Ausschreitungen kam, Schüsse fielen, Molotovcocktails und Steine geworfen wurden. Die Regierung hat Krisensitzungen einberufen, 100 Tage nach Ausbruch der sogenannten Revolution des 25.Januars steht auch sie in der Kritik, weil sie nicht für genügend Sicherheit sorgen kann, insbesondere die Polizei. Koptische Priester klagen, dass sie nicht geschützt werden:

"Now we are really afraid. They are people who are systematically attacking us and there are no police or military to protect us."

"Verantwortlich gemacht wurden die Salafisten, aber wer tatsächlich verantwortlich ist, ist völlig unklar", so ein Kairo-Korrespondent al-Jazeeras. Gerüchten zufolge könnten es auch Mitglieder des alten Regimes sein, die Interesse am Chaos haben und dazu die Spannungen zwischen Kopten und Muslimen ausnutzen. Auch die Rolle Saudi-Arabiens als Finanzier von Salafisten wird ins Spiel gebracht.

Was wahr ist und was inszeniert, ist kaum voneinander zu unterscheiden. Der Auftritt von Camille Shehata, von der Salafisten behaupten, dass sie zum Islam konvertiert sei, zusammen mit ihrem Ehemann im TV, wo sie aussagte, dass sie nach wie vor Christin sei, konnte nichts gegen anderslautende Gerüchte ausrichten, im Gegenteil, möglicherweise beförderte er sie sogar. Fest steht nur: Es genügen ein paar richtig platzierte Funken, um Ägypten, das auf dem besten Weg ist, eine Demokratie mit Vorbildfunktion im ganzen Nahen Osten zu entwickeln, mit Chaos daran zu hindern.