Geschichtsfälschung in den Marvel Studios

Die neuen Hulk- und Punisher-Filme sind nur halbe Fortsetzungen, verzichten aber dennoch auf elaborierte Entstehungsgeschichten

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"Iron Man" war noch anders, kaum mehr als die Genese seines Helden, ein "Iron Man Begins". "Hancock" dagegen startet direkt in medias res, beginnt mit einem fertigen Supermann, den nur noch ein kleiner Junge darauf hinweisen muss, dass mal wieder "bad guys" am Werk sind. Aber "Hancock" ist auch ein neuer Stoff, nicht ein weiteres Produkt eines bereits etablierten Franchises, und nicht aus dem Hause Marvel.

Ob man im Falle von Ang Lees "Hulk" von der Etablierung einer Figur sprechen kann, lässt sich bestimmt streiten - immerhin floppte dieses Superhelden-Familiendrama an den Kinokassen weitgehend. Besser erging es dem einigermaßen günstig produzierten "Punisher". Und beide bekommen jetzt eine Fortsetzung. Oder gerade eben keine: "The Incredible Hulk" - so der Originaltitel des Films, bei dem sich der deutsche Verleih Concorde lange nicht entscheiden konnte, ihn als "Hulk 2" oder doch lieber "Der unglaubliche Hulk" vermarkten soll - hat mit dem 2003er-Film nur noch den großen grünen Wüterich gemein.

Gut, dann eben ein Neustart - das ist nach nur fünf Jahren vielleicht etwas früh, aber dabei höchstens ungewöhnlich. Wenn es denn ein Neustart wäre. Obwohl Bruce Banner jetzt von Edward Norton (statt Eric Bana) und Betty Ross von Liv Tyler (statt Jennifer Connelly) gespielt werden und explizit nicht als Fortsetzung verstanden werden will, verzichtet der "Incredible Hulk" dennoch auf eine langwierige Heldengenese: Hulks Dr. Jekyll/Banner ist hier bereits mutiert, auf der Flucht vor dem Militär, versteckt sich irgendwo im südamerikanischen Dschungel - wohin sich Ang Lees Charakter am Ende des letzten Films zurückzog.

Das Verhältnis zwischen beiden Filmen ist seltsam unschlüssig und widersprüchlich: Einerseits setzt man (zu Recht) gewisse Grundkenntnisse beim Publikum voraus, andererseits emanzipiert sich der neue Film von dem Zwang, alle kreativen Entscheidungen des Vorgängers übernehmen zu müssen, um die continuity zu wahren. "Punisher: War Zone" geht den gleichen Weg - neuer Hauptdarsteller, und eine nicht neu ausformulierte Entstehungssage, die sich dennoch vom Plot des letzten Films unterscheidet. Klar - der Charakter ist jetzt bekannt, und ob seine Familie nun auf den Bahamas oder im Central Park ums Leben kam, ist dabei egal: Geschichtsfälschung als Geek-Verschwörung.

Vielleicht liegt auch genau hier die Ursache für diesen rücksichtslosen Umgang mit der selbst erfundenen Vergangenheit: Marvel hat es offenbar satt, ihre Superhero-Lizenzen an Filmstudios zu verpachten, und produziert inzwischen als "Marvel Studios" selbst - "Iron Man" war das erste Kinoprodukt aus diesem Hause. Damit ist das Medium des Comics wieder bei seinen Urhebern angekommen, und dort ist es schon lange ganz normal, seine eigenen Mythen stetig neu zu erfinden, ohne dafür neue Figuren einzuführen. Eine Mischung aus wohlig Vertrautem und spannend Neuem ist die Würze, die die großen Heftchenserien schon lange in regelmäßigen Abständen wieder belebt. Film und Comic sind sich damit wieder ein Stück näher gekommen.