Gewalt erleben

Polizeijargon oder einfach nur Lifestyle? Die (verbalen) Ausschreitungen im Hamburger Schanzenviertel geben Rätsel auf

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Ist, was früher "gewaltmotiviert" hieß, jetzt "erlebnisorientiert"? Dass sich das Straßenfest im Hamburger Schanzenviertel im Laufe der Nacht zu einer Straßenschlacht entwickelt habe, sei keine Überraschung, lernt man aus den Berichten am Tag danach.

Allsommerlich kommt es beim Fest im Umkreis der Roten Flora, dem besetzten Kulturzentrum mit Unruhepotenzial, zu Ausschreitungen zwischen "Linksautonomen und Polizei" ( Hamburger Abendblatt) bzw. "Randalierern und Polizei" (Der Spiegel). Aufhorchen lassen nun weniger die aus Kreuzberger Erster-Mai-Feiern bekannten Vorjahresvergleiche - "2009 waren die Randalierer 'aggressiver und besser vorbereitet'" -, sondern die SpiegelOnline-Bemerkung des Polizeisprechers Ralf Meyer, dass es "auch in diesem Jahr wieder 'einige erlebnisorientierte' Randalierer gegeben" habe.

Haben sich da Menschen aus den Erlebniswelten des Kaufhauses verirrt? Ist es - zumindest auf semantischen Flächen - gar kein so großer Schritt von den "anheimelnden Kuschelecken für kleine Leser in einem Buchladen" zu dem brennenden Polizeiauto vor dem Autonomiezentrum?

Erlebnisbäder, Erlebnispädagokik, Erlebnisgeschenke, Erlebnisgastronomie oder Erlebnisbergwerke - schon ein Blick auf die häufigsten Google-Treffer zum Thema "Erlebnis" zeigt uns, wie das Erleben zum künstlich generierbaren Produkt werden soll. Und auch ein "Ultra-T-Shirt" mit Audruck Schlagring im Nacken und vorn mit dem Wort "erlebnisorientiert" gibt Rätsel auf.

Möglicherweise handelt es sich bei dieser eigenwilligen verbalen Gleisführung aber auch nur um einen gegenwartsorientierten neuen Sammelbegriff der Polizei.

Vom Hamburger Abendblatt, das seinerseits den erlebnisorientierten Leser antizipiert und in der Überschrift zur Sommerfestnacht von "Brennenden Barrikaden und Hagel aus Wurfgeschossen" schreibt, wird Polizeisprecher Ralf Meyer etwas akkurater zitiert. Hier werden jene "etlichen Jugendlichen, die sich unter schwarzgekleidete Autonomen mischen, mit denen sie üblicherweise nichts zu tun haben", als "gewalterlebnis-orientiertes Klientel" bezeichnet, "das bisweilen ebenfalls Flaschen und Böller warf".

Früher sprach man man eher von "gewaltmotiviert", psychologisch nach Beweggründen suchend. Jetzt betont man das Ziel- und Konsumorientierte. Am Ende der großen Kaufhäuser ist alles ein Supererlebnispark geworden.