Griechen sparen die Halbfinalprämien

Griechentum und Optimismus oder: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Offensive - bei der Fußball-EM gewinnen die Deutschen gegen Griechenland mit 4-2

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Endlich, da war sie wieder: Erstmals stand im EM-Viertelfinalspiel gegen Griechenland nicht ein erweiterter FC Bayern auf dem Platz - kühl effizient, ergebnisorientiert, puritanisch, rumpelig, zaghaft und latent frustriert -, sondern eine deutsche Fußballnationalmannschaft, so wie wir sie von der letzten WM 2010 in Südafrika kennen: Offensiv, spielfreudig, laufstark und einfallsreich. Gegen die gar nicht schwachen Griechen spielte Löws Team stellenweise Zauberfußball. Statt dem 4-2 auf der Anzeigetafel war das Endergebnis ein gefühltes 6-1 und hätte auch 9-3 lauten können, wenn ein paar der vielen Chancen und Fast-Tore reingegangen wären.

Woran lag das? Viele Erklärungen bieten sich an: Natürlich sagen jetzt manche, man hätte die griechische Mannschaft sowieso im Vorfeld überschätzt, vorab unangemessen hochgejazzt und zu einem Angstgegner aufgebaut. Seien halt doch nur kickende Ziegenhirten und orthodoxe Ballmönche mit romantischen Bärten. Das ist aber falsch: Die Griechen schwammen zwar von Anfang an in der Abwehr, in dem man eigentlich den stärksten Teil der Mannschaft vermutet hatte, hielten aber im Mittelfeld gut gegen gegen die deutschen Angriffswellen und waren im Sturm bei aller Desorganisiertheit immer bissig und gefährlich. Und immerhin stand es bis zur 39ten Minute 0-0 und nach einer Stunde 1-1. Trotzdem gelang es den Deutschen in der zweiten Halbzeit - in der die Griechen in den drei bisherigen Spielen immer besser gewesen waren, als in der ersten Hälfte - mehr Tore in den griechischen Kasten zu hauen, als es bis dahin den Gegnern dreier Vorrundenspiele in 270 Spielminuten geglückt war.

Gomez stand nicht mehr im Weg

Man könnte auch sagen: Der Özilknoten ist endlich geplatzt. Der Mittelfeldstar von Real Madrid hatte auch zuvor viel besser gespielt, als er vom Sportjournalismus geschrieben wurde. Aber beflügelt von "Sieg Sieg"-Rufen einiger deutscher "Fans", die sich auf dem Weg von Danzig über Warschau nach Kiew offenbar eher auf dem neuesten deutschen Ostfeldzug wähnen, als auf einer Fußball-Europameisterschaft, und vom jüngsten Blogger-Rassismus einiger Neonazis, außerdem durch den griechischen Verzicht auf Manndeckung mit mehr Freiraum ausgestattet, spielte Özil einen großartigen Pass nach dem anderen, stieß immer wieder schnell und direkt in den griechischen Strafraum vor, und war insgesamt einer der besten deutschen Spieler auf dem Platz.

Man könnte schließlich auch sagen: Zwei Bayern weniger auf dem Platz, ein Dortmunder mehr, schon gab es spürbar mehr Spielfreude, schon lief das deutsche Angriffspiel, schon schossen die Deutschen mal vier Tore aus 12 Chancen statt ein oder zwei aus vier.

Das letzte ist natürlich ein allzu polemisches Argument. Festzuhalten bleibt aber, dass es Müller guttat, einmal eingewechselt zu werden, dass es der deutschen Mannschaft gut tat, mit Reus und Schürrle zwei Offensivkräfte auf den Außenpositionen zu haben, die nicht unter ihren Möglichkeiten spielen, wie das derzeit leider bei Podolski und Müller der Fall ist. Wie wenig Müller und Podolski zuvor gebracht haben, sah man erst, als sie mal nicht mehr mitspielten. Schürrle allerdings, das gehört auch zum Gesamteindruck spielte auch nicht ganz glücklich. Nach mehreren vergebenen Chancen war sein Fehler schuld am 1-1. Da konnte auch Hummels, für Zidane und britische Kommentatoren längst der beste Mann des Turniers, nichts mehr retten. Erst recht tat es der Mannschaft gut, dass diesmal kein Gomez vorne im Weg stand. Dass man statt eines "Stuhls" (so Wort-Schreinergeselle Franz Josef Wagner in "Post von Wagner") wieder einen Stürmer aufgestellt hatte. Schürrle, Reus, Klose, nicht Müller, Podolski, Gomez - das war der taktische Triple-Schlag von Jogi Löw, und der erwies sich als dreimaliger Volltreffer. Probleme hatten die gut eingestellten Deutschen vor allem mit dem Boden und als man zum vierten Mal einen Stürmer wegrutschen sah, fragte man sich, warum eigentlich die Griechen nie rutschten? Waren vielleicht doch die Stollen zu kurz? Als am Ende dann doch noch mal Gomez ran durfte, hätte man ihn leicht mit einem griechischen Abwehrspieler verwechseln können, allein das blaue Trickot fehlte. Klose dagegen...

Grieche bleib bei Deinem Leisten!

Und die Griechen? Haben ihre Sparpolitik schon mal durch Einsparung der Halbfinalprämien begonnen. "Wenn das schiefgeht..." hatte bereits vor Spielbeginn "Experte" Oliver Kahn im ZDF-Sportstadl geunkt, man müsse "das Spiel breit machen, dadurch ergeben sich Räume", flankiert von dumpfbackiger Fernseh-Ethnologie wie, dass die Griechen halt "unorganisiert" seien und "Schlitzohren". Als ob wir das nicht aus den täglichen Nachrichten längst wüssten.

In Chelseablau traten die Griechen an, und hätten sich bestimmt auch ein 0-0 nach 120 Minuten gefallen lassen. Aber als die Deutschen schon nach 24 Minuten ihre siebte Chance versiebt hatten, und Samaras nach seinem dritten fiesen Tritt gegen ein deutsches Abwehrbei endlich verdient die Dunkelgelbe Karte bekommen hatte, war klar, dass Deutschlands Führung nur eine Frage der Zeit sein musste. "Es ist wie Steinehauen" meine Bela Rethy nicht untreffend, und so Schlug der deutsche Sturm mehr und mehr Löcher in den griechischen Rettungsschirm.

Aber der portugiesische Nationaltrainer der Griechen, Fernando Santos ist ein Fuchs und vor allem ein geniale Einwechsler. Es war klar, dass er sich für die zweite Halbzeit etwas einfallen lassen würde. Nur aus Prinzip und Liebe zum Fußballspiel hätte man daher seinen Mut dazu, zwei Spieler zur Pause mal einfach einzuwechseln, den Mut zu mehr Offensive gegen die Deutschen gern belohnt gesehen.

Und doch: Vielleicht war es gerade der Hauch Optimismus, der kurzzeitige Abschied von griechischer Agonie, der den Untergang der EM-Griechen besiegelte; die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Offensive. Rastlos vorwärtsdringend erzitterten die Griechen unter üppigen Wallungen und Begehrungen schienen sie für Augenblicke wirklich an die eigene Kraft zu glauben und eben dieser Glaube riss sie in den Abgrund. Dies war er, der im Schoß des optimistischen Geistes schlummernde "Vernichtungskeim" über den schon Nietzsche schreibt. "Hybris" stammt schließlich aus Griechenland. Das Wort bezeichnet die Selbstüberschätzung, sie ist in der antiken Tragödie Auslöser für den Fall der Helden, die aus Überheblichkeit die Zeichen der Götter ignorieren. Man hätte laut schreien wollen: "Grieche bleib bei Deinen Leisten!!"

Tatsächlich gelang den Griechen der Ausgleich: Nicht wirklich erwartet, aber zum Zeitpunkt des Ereignisses auch nicht vollkommen unverdient - "Es gibt keine Gerechtigkeit im Fußball" lautet dazu der ewige Lehrsatz des Fußball-Epistemologen Uli Hoeneß, einfacher sagt es das Kindergartenlied: "Wer seine Chancen nicht nutzt, wird bestraft." Für einige Minuten blickten die Deutschen nicht gerade in einen Abgrund, aber waren in eine kurze Schockstarre geworfen, und hätten die Blauen da natterngleich noch ein zweites Mal zugeschlagen... wer weiß, wer weiß... So aber hielt Deutschland dagegen, vertrieb die dunklen Wolken namens Verlängerung und Elfmeterschießen, und nicht zufällig war es der kampfstärkste Khedira, der im Panzerknackerstil das 2-1 machte.

Kick-Keynesianismus statt fußballerischer Austerity

Und die Politik? Mit der hatte das Spiel gestern wenig zu tun. Irgendwann vor über 20 Jahren erschien auf English das Buch "The Tyranny of Greece over Germany", in dem die Autorin viele gute Argumente aufführt, um zu erklären, dass unser deutsches Griechenlandbild - den Geist der Griechen mit der Seele suchend - immer schon eine naive und gefährliche Selbsttäuschung war, die seit Hölderlin die deutschen Hirne verhext hat. Sie erklärt recht schlüssig den Nationalsozialismus genau daher, dass die Deutschen nicht - wie Franzosen und Briten - das antike Rom zum Vorbild erkoren, sondern ein idealisiertes Griechenland. Wir täuschen uns jedenfalls über die Griechen. Sie sind anders, was wir es wahrhaben wollen, und unser Verhältnis zu ihnen und ihres zu uns ist anders, als wir es wahrhaben möchten. "Eine Grundfrage ist das Verhältnis des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, jene Frage, ob wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Kulten aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist?" schrieb Friedrich Nietzsche.

Ansonsten konnte man beobachten, dass keiner beim Jubel in Zeitlupe so geistig behindert aus sieht, wie Angela Merkel, noch nicht einmal der immer mehr einem Sowjetfunktionär ähnelnde Michel Platini.

Generell könnte man nun auch feststellen: Deutschland stellte von der Tor-Sparmanie fußballerischer Austerity auf Kick-Keynesianismus um. Schluss mit Merkelfußball. Dann wäre der Sieg der Deutschen über die Griechen kein Sieg der Sparkommissare über die Schuldenmacher gewesen, sondern eine neue Tor-Ausgabepolitik der Deutschen, ein Versöhnungsschritt des Nordens mit dem Süden, der deutschen Puritaner mit dem dolce far niente und jenem Volk, das zusammen mit den Italienern immer schon stellvertretend die Zukunft Europas vorwegnahm - und damit der erste Vorschein einer Zeit jenseits von Angela Merkel.

Aber das wäre nun wirklich überinterpretiert.

"Glaube niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes. Dann wird er Drachen töten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken – und Wotans Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können!"

Friedrich Nietzsche, "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", 1872