Im Blind-Scherbacken-Gang

US-Regierungsstellen vertrauten BPs Technologie, als ob sie von der NASA stammte. Neue Ursachenberichte zur Ölpest zeigen, wie weit sie damit hinter dem Mond lagen

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"Blind-Scherbacke", englisch "blind-shear ram", heißt das Gerät, auf das sich zuletzt alle Anstrengungen der Männer auf der Deepwater-Horizon-Bohrinsel richteten, um den drohenden GAU zu vermeiden. Vergeblich, wie man mittlerweile weiß. Ein neunseitiger Bericht, heute in der New York Times zu lesen, zeigt Interessierten in Details auf, wie das Unwahrscheinliche, entgegen allen Versicherungen der verantwortlichen technischen Experten auf Seite der Industrie, erschreckende Wirklichkeit werden kann. Vor allem wenn die Regierung den technischen Versprechen der Unternehmen derart traut, als ob sie von der NASA kämen, und dabei selbst ahnungslos handelt.

Dass BP auch jetzt noch das "Monopol" für technische Rettungsmaßnahmen hat, nachdem Regierungsstellen, wie auch die US-Armee, bekundeten, dass dies niemand besser könne und bessere Mittel dazu habe als BP selbst, ist kein Zufall, sondern beinahe zwangsläufig, das zeigt der bericht der New York Times auch. Auf Regierungsseite hat man offensichtlich jahrelang laienhaft die Versicherungen, wonach Unfälle unwahrscheinlich sind, für bare Münze genommen.

Die Blind-Scherbacke

Die Blind-Scherbacke ist die letzte Rettungsmöglichkeit, wenn bei einer Bohrung alles schief geht. Im letzten Moment soll sie das Rohr im Bohrloch abschneiden und dann die Bohrung abdichten.

Dass es Probleme geben könnte, sei seit Jahren bekannt, so der Zeitungsbericht. Man wisse von Fällen, in den das Abschneiden des Rohres nicht funktionierte, weil die Rohre mit der Zeit dicker wurden, die größeren Tiefen neue Probleme stellten; man wisse von Fällen, in denen Wechselventile nicht funktionierten und schließlich gebe es vereinzelte Fälle, in denen der hydraulische Mechanismus zum Schließen der Backen nicht funktioniert hat, weil die Leitungen aus irgendeinem Grund leck waren. Solches Versagen wurden aber von Konzernen als sehr unwahrscheinlich dargestellt, immerhin wurde dauernd an der Verbesserung dieser System gearbeitet.

Doch hatte es sich als Praxis bewährt, einen zweite Blind-Scherbacke als Back-up im Blow-Out-Preventer-Sicherungssystem zu installieren. Aber eben nicht auf der Deepwater-Horizon-Bohrinsel. BP und der Bohrinseleigner Transocean schieben sich gegenseitig die Verantwortung dafür zu. Nach Stand der Dinge sieht es so aus, als ob BP Kosten sparen wollte.

Die Blind-Scher-Backe funktionierte nicht; nach tagelangen Bemühungen, die Ölquelle abzudichten, stellten Techniker über "Röntgenaufnahmen" via Tauchroboter fest, dass sich nur eine Backe bewegt hatte. Das technisch Unwahrscheinliche war eingetreten, weitere Bemühungen sinnlos, so der Zeitungsbericht. Er berichtet zudem von norwegischen Untersuchungen zur Verlässlichkeit von Blow-Out-Preventer, die zeigten, dass Blow-out-Preventer bei Tiefseebohrungen eine Versagenrate von immerhin 45 Prozent - bei einer Grundgesamtheit von 11 untersuchten Fällen - aufwiesen.

Herstellung, Einbau, Sicherheitsnormen und Test - alles in den Händen der Industrie

Die für technische Sicherheitsmaßnahmen zuständige US-Behörde Minerals Management Service hätte sich der Ausfall-Risiken der Blind-Scherbacke bewusst sein müssen, schließlich habe sie selbst Untersuchungen zum Sicherungssystem in Auftrag gegeben. Allerdings, so die Zeitung, ging die Behörde bei der Genehmigung der Bohrerlaubnis für BP äußerest lax vor.

Eine Überprüftung des Blow-Out-Preventers und der Funktionstüchtigkeit des allerletzten Rettungssystems, der Blind-Scherbacke, fand nicht statt, obwohl schon Jahre zuvor Risiken des Blow-Out-Preventer-Systems bei der Deepwater-Horizon festgestellt worden waren. Alles blieb in Händen der Industrie, wie dies die Aussage eines Offiziers der Küstenwache auf den Punkt bringt:

"It (der Blow-Out-Preventer, Einf.d. A.) is designed to industry standard, manufactured by industry, installed by industry, with no government witnessing oversight of the construction or the installation."

Ein Leck

Wie ein Mitarbeiter der Bohrinsel heute von BBC zitiert wird, habe es schon Wochen vor der Explosion untrügliche Zeichen dafür gegeben, dass es ein Leck im Kontrollgehäuse des Blow-Out-Preventer gab, so dass das Funktionieren der Scherbacken gefährdet war. Zwar seien BP und Transocean davon in Kenntniss gesetzt worden, er wisse aber nicht, ob das Kontrollgehäuse ausgetauscht wurde. Die Reparatur hätte einen Stopp der Bohrung bedeutet. BP bezahlte Transocean eine halbe Million Dollar täglich Miete für die Bohrinsel.

Depressionen und Gewalt

Laut LA-Times wurde in Louisiana eine Krisen-Einrichtung eiligst wieder neu aufgemacht, die man als Reaktion auf die Verwüstungen und Folgen des Hurrikan Katrina aufgebaut hatte: "Louisiana Spirit", ein Programm zur psychischen Unterstützung geschädigter Personen.

Solche Katastrophen wie jetzt die Ölpest würden nicht nur die geschäftliche Existenzen zunichte machen, sondern öfter bittere psychische Konsequenzen haben. Nach dem Exxon Valdez-Unglück in Alaska habe es beispielsweise eine Welle von Selbstmorden, häuslichen Gewalttaten und Alkoholismus gegeben.