Im Kapitalismus ist nicht alles verzweifelt und grau, sondern alles verzweifelt und bunt

"Lowlights": die Chancen, die in einem kleinen Fluchtversuch liegen

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Wie alle Kunst kann auch die Filmkunst gewisse gesellschaftliche Konstellationen erklären oder verklären. Sie kann Mut machen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen oder - egal ob volkstümlich oder avantgardistisch - die bedrückende Banalität des Fernsehprogramms reproduzieren. In erster Linie ist die Filmkunst keine einfache Abbildung der Welt, sondern vermittelt eine bestimmte Haltung zur Welt.

Dem griechischen Philosophen Panajotis Kondylis zufolge besteht der "doppelte Wesenszug der Filmkunst" darin, dass sie aus der Realität etwas Irreales schafft, diesem Irrealen jedoch "gleichzeitig Substanz und Realität" verleiht:

"Die ausgewählten Dinge verwandeln sich aus Elementen der Welt in Elemente einer Aussage über die Welt."

In diesem Sinne kann freilich in einem Film sehr viel passieren, obwohl sich darin gar nichts Spektakuläres ereignet. Und genau so ein Wunder ist das kleine Meisterwerk "Low Lights" von Ignas Miskinis, der einen ganz wunderbaren Film über ganz normale Menschen gedreht hat.

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(Bild: 3L Filmverleih)

Der 33jährige Tadas (Dainius Gavenonis) arbeitet bei einer Versicherungsfirma im litauischen Wilna und ist mit dem liebreizenden Eiszapfen Laura (Julia Maria Köhler) verheiratet. Das eheliche Beilager zelebriert er eher beiläufig als Solokünstler in der halbfertig renovierten Neubauwohnung auf dem Sofa. Er wird von seinen Handwerkern übers Ohr gehauen, hat aber auch einen Mittelklassewagen geleast. Beide Partner des Eheelends arbeiten zu lange in Jobs, die sie nicht interessieren und schauen abends Filme, die sie gleichfalls nicht interessieren. Dazwischen reden sie miteinander noch kurz über Dinge, die sie ebenfalls nicht interessieren. Während sich die Motivationskurve bei Tadas bereits verdächtig nach unten neigt, spielt die Karrierefrau noch ihren Part und verabreicht dafür ihrem Holden auch im Privatleben die fällige Sonderbehandlung für erfolglose Versicherungsvertreter.

Da trifft Tadas in einer Mittagspause auf seinen alten Kumpel Linas (Jonas Antenèlis), den es nach "fünf Jahren Urlaub in den USA" wieder in seine Heimatstadt verschlagen hat. Linas ist ein charmanter und selbstbewußter Hallodri. Er überredet Tadas zu einer nächtlichen Spazierfahrt in dessen Auto und legt gleich zwei Regeln fest: Es werden immer nur zwei Liter getankt und ab und an ein "Neustart" gewagt: D.h. man hält die Luft an, macht die Scheinwerfer aus und cruist blind durch die Nacht solange der Atem reicht.

Gleichzeitig macht sich auch Laura durch die Nacht: Sie wird an einer Tankstelle von einem jungen grasrauchenden Schnösel aufgegabelt, der aussieht wie der unehelicher Sohn von Sebastian Schweinsteiger und Stefan Effenberg, dem sie sogleich die Sportkarosse klaut. Da ihr aber bald das Benzin ausgeht, lässt sie den Wagen stehen und wird wiederum von Tadas in einer Tankstelle angesprochen. Natürlich erkennt Tadas seine Frau und umgekehrt, aber beide spielen auf unbekannt und fortan beginnt ein Flirt zu dritt. Anfangs hat Linas noch die flotteren Sprüche parat, aber bald konkurriert Tadas um seine Frau. Alle geben sich für jemand anders aus und diese(r) Fremde ist mehr als der Idiot im eigenen Leben, der sich ständig für einen selbst ausgibt.

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(Bild: 3L Filmverleih)

Wie Richard Oehmann einmal richtig bemerkt hat, ist im Kapitalismus nicht alles verzweifelt und grau, sondern alles verzweifelt und bunt. Auch in Wilna trinkt man den Kaffe aus Plastik geformten Nescafébechern und sieht der Welt auf Flachbildschirmen beim Verschwinden zu. Aber nachts im Auto, wenn man durch die Stadt und die Suburbias stromert und die Welt vom endlosen Nichts verschluckt wird, hat alles seinen Platz. Man ist ständig unterwegs und taucht nur kurz in der Außenwelt auf, um zwei Liter Benzin zu tanken. Nachts gehören die leeren Straßen denen, die sie befahren. Dann braucht es nur einen guten Radiosender und ein Tütchen Gras, um sich des Daseins auf dem fremden Planeten zu erfreuen.

Der wirklich gelungene, mit einem kleinem Budget und überwiegend nachts gedrehte Fim macht wieder einmal klar, dass die Ausgangssituation des französischen Existenzialismus eine Exposition darstellt, die sich ideal für das Genre Roadmovie eignet. In einer Welt, die bis in die letzte Faser des Daseins durchdrungen scheint von Fremdbestimmung, blitzt hin und wieder, wenn man selbst ein wenig aus der eigenen Umlaufbahn gerät, ein mögliches Leben auf. Denn in letzter Konsequenz zwingt einem kein Mensch außer einem selbst, sein Daseinchen als das einer überkandidelten Arbeitsbiene und größenwahnsinnigen Konsumameise aus dem Quelle-Katalog zu fristen. Die üblichen Pfade, die erdrückenden Konventionen, können zu jeder Zeit verlassen werden. Zu einem gelungenen Leben ist es zwar dann noch weit, aber selbst der längste Weg beginnt mit einem ersten Schritt.

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(Bild: 3L Filmverleih)

Das zentrale Motiv in diesem Film ist die Entwicklung von Subjektfähigkeit. Während die anderen nur ihr Leben spielen, beginnen die drei in ihren Rollen sich wieder zu finden und die internalisierten Grenzen zu überwinden. Dabei wird nach einem stereotypen Liebesgeständnis Linas klar, daß sein Subjektstatus ebenfalls prekär ist, während der nicht unsympathische Versicherungszombie zu Leben erwacht und wieder zu kämpfen beginnt. Er beginnt die Regeln zu ändern. Denn wie ein bezaubernder Song der Chi-Liteslehrt, muß man auch im Wagen der Liebe nicht ständig hinten sitzen.

Der Regisseur Ignas Miskinis beschreibt das Setting seines Films so:

"Lowlights setzt sich mit Problemen wie Entfremdung und Vergeblichkeit auseinander. Meine Charaktere stehen für die vielen Menschen, die in der Routine sind, die uns das heutige urbane Leben diktiert. Nichtsdestotrotz ist die filmische Botschaft in eine leichte und romantische Stimmung eingebettet. Der Film deckt die Schönheit der Nacht auf, ihre Farben und die Chancen, die in einem kleinen Fluchtversuch liegen."

Es passiert nicht viel, es wird auch nicht viel gesprochen und dennoch verdichtet Miskinis das fragile Fließgleichgewicht der Charaktere in einem Mittelklassewagen zu einem heiteren Drama, wie man es beinahe auch aus dem Leben kennt. Der Streifen gewann 2009 in Litauen den Preis als bester Film, der Schauspieler Dainius Gavenonis wurde als bester Darsteller geehrt und beim internationalen Filmfestival 2009 in Karlovy Vary war er ein Publikumsrenner. Seit 29.4. läuft der Film in den deutschen Kinos.