Kein Alkoholproblem?

Angehörige der Mittelschicht, die gerne Wein trinken, halten sich einer Studie zufolge für schlauer als Gesundheitsexperten

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In Bayern ist heute Feiertag; die Katholiken begehen Christi Himmelfahrt und Männergruppen den Vatertag. Die Isar schickt aus dem Süden ein Floß nach dem anderen nach Thalkirchen. Darauf zu sehen sind in der Regel eine kleine Blasmusikkapelle, manchmal eine Rock-oder Popkombo, bisweilen durch eine Musikanlage ersetzt, und in allen Fällen viel Bier, das die Floßfahrer in laute Jubelstimmung versetzt; die meisten Spaziergänger quittieren dies mit leichtem Kopfschütteln, winken aber trotzdem zurück. Dass Rettungswagen am Ziel warten, soll auch vorkommen.

Der Vatertag ist ein Tag feucht-fröhlicher Bräuche, "aus dem geselligen Ausflug wird oft ein hemmungsloses Gelage", kommentiert eine ortsansässige Zeitung und unterlegt dies mit Material des statistischen Bundesamts, das den Tag, zusammen mit dem Neujahrstag in punkto Alkohol, als unfallträchtigsten Tag des Jahres ermittelt hat.

Frankreich: "Pathologische Dimensionen" und Bon vivants

In Frankreich sorgt derzeit eine Untersuchung für einigen Wirbel, die festgestellt hat, dass Schüler früher und häufiger Alkohol konsumieren und anscheinend häufig nicht in dem bedächtigen, lebensgenießerischen Maß, womit der Weinhandel in Frankreich Werbung in aller Welt macht - seit ein paar Jahren besonders in China. Drei von fünf Gymnasiasten waren schon betrunken und in der Abschlussklasse trinkt jeder vierte regelmäßig.

In einigen Kommentaren wurde diese Erkenntnis einem Schock gleichgesetzt. Für Notaufnahmestationen in Krankenhäusern sei dies nichts Neues, reagiert darauf ein Psychotherapeut im Nouvel Observateur. Die Stationen seien "voll mit Jugendlichen, die wegen einer Alkoholvergiftung eingeliefert wurden"; man rücke die toxische Wirkung des Alkohols in Frankreich nur zu gerne zugunsten des "bon vivant"-Images in den Hintergrund.

Man sei in einer Art Verweigerungshaltung befangen gegenüber der Abhängigkeit zu diesem Produkt. Den Eltern komme es zu, hier gute Vorbilder zu sein, selbstreflexiv gegenüber ihrem eigenen Verhältnis zu alkohlischen Getränken, und aufmerksam genug, um rechtzeitig zu erkennen, wann der Konsum anfängt, "pathologische Dimensionen" zu entwickeln.

Da damit ein Bereich des privaten Lebens angesprochen wird, der mit einer gewisse Heiligkeit umgeben ist, und obendrein mit fluiden Grenzen - wo genau ist der Übergang zum krankhaften Konsum? - , haben Untersuchungen, die in die Mitte der Gesellschaft zielen, Provokationspotential. Das zeigen die Reaktionen auf eine Studie, die aktuell in britischen Medien besprochen und in den Foren mit scharfen Angriffen gegen die Experten bedacht wird.

Großbritannien: "Problemtrinker, die glauben, dass sie besser Bescheid wissen als Gesundheitsexperten"

Mitglieder der Fakultät für Pharmacy, Health & Wellbeing der Universität von Sunderland haben in ihrer Studie nämlich den Alkoholkonsum der Mittelklasse, der Angestellten, Manager auf mittlerer Führungsebene, zusammengefasst als White-Collar-Arbeitnehmer, als "Zeitbombe" ausgemacht, deren Alkolkonsum dem nationalen Gesundheitssystem größere Folgekosten aufladen könnte. Denn die Anhörigen dieser Schicht würden im Privaten, nach einem anstrengenden Arbeitstag, beim Kochen, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht haben, regelmäßig trinken, häufig Wein, und dies in einem Ausmaß, das die gesundheitlichen angeratenen Mengen übersteige. Obendrein mit dem falsch informierten, guten Gewissen, dass das feierabendliche Ritual doch eigentlich gesund sei, auf jeden Fall nicht gesundheitsschädlich, ganz anders als etwa im Fall der Binge-Trinker.

Im Interview mit den Wissenschaftlern sollen die Befragten mehrheitlich zu erkennen gegeben haben, dass sie sich im Gegensatz zu den Binge-Trinkern, die bei den letzten Regierungskampagnen gegen Alkoholmissbrauch im Zentrum standen, nicht als "Problemtrinker" begreifen. "Weintrinken ist Teil ihres Lebens, eine Markierung, die eine Abgrenzung zwischen ihrem Erwachsenenleben und dem Leben mit ihren Kindern oder auch das Arbeitsleben bedeutet. Der Weinkonsum ist mit ihrer Identität verbunden, mit ihrem Erfolg und auch mit einer feineren Art des Genusstrinkens", wird eine Wissenschaftlerin zitiert.

Doch gibt sie zu bedenken, dass damit der Blick auf eine gesundheitsschädliche Abhängigkeit verstellt wird. Das sei verstecktes Trinken. Die Zuhausetrinker würden ihr Konsummuster nicht als problematisch erkennen, aber "wissenschaftliche Beweise legen nahe, dass regelmäßiges Trinken zu deutlichen Gesundheitsproblemen im späteren Alter und zu schwerwiegenden Lasten für das nationale Gesundheitssystem (NHS) führen".

Der Studie liegen Interviews mit 49 Angestellten aus verschiedenen Branchen zugrunde. Die relativ kleine Grundgesamtheit wird im Forum zum Telegraph-Artikel kritisiert. Das sei keine Forschung, sondern Geschwätz heißt es dort. "Wenn ich mir einen kleinen Drink zuhause gönne, ist das wirklich kein Problem. Anders als bei acht Bieren im Pub, wo man dann laut, grob und aggressiv wird. Das ist das Problem."