Kein zweiter Venlo-Zwischenfall

Festsetzung deutscher Militärs weckt Assoziation zu historischem Spionageskandal

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Die Bedeutung der in der Ostukraine der Spionage bezichtigten Bundeswehroffiziere scheint sich auf die Interessen des selbst ernannten „Bürgermeisters“ von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow zu beschränken. In der Diplomatie zwischen den Blöcken hingegen wird dem Vorfall offenbar keine langfristige Bedeutung beigemessen. Wie eine Festsetzung von Agenten politisch hätte ausgeschlachtet werden können, zeigte 1939 der provozierte „Venlo-Zwischenfall“, der historisch erst seit 2009 zweifelsfrei beurteilt werden kann.

Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte der deutsche Geheimdienst britische Offiziere unter einem Vorwand ins niederländisch-deutsche Grenzgebiet gelockt und nach Deutschland verschleppt. Deutsche Doppelagenten hatten in den Niederlanden britischen Geheimagenten Informationen über einen vermeintlichen Putsch gegen Hitler angeboten. Der Leiter der für die Aufklärung von Nordwesteuropa zuständigen „Organisation Z“ des britischen Geheimdienstes persönlich hatte sich auf ein Treffen in Venlo an der deutschen Grenze eingelassen. Dort jedoch wurde er in Begleitung eines britischen und eines niederländischen Geheimdienstlers von einem SS-Kommando überfallen und nach Deutschland entführt.

Der deutsche Geheimdienst nutzte damals den Venlo-Zwischenfall für Propaganda gegen die Briten und stellte diese als Drahtzieher des Attentats von Georg Elser auf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller dar. Diese Darstellung wurde lange für authentisch gehalten wurde und war auch für Historiker zumindest nicht auszuschließen. Erst 2009 wurden gesperrte Dokumente des britischen Geheimdienstes veröffentlicht, welche insoweit die Alleintäterschaft Elsers untermauern. Dem niederländischen Geheimdienstoffizier, der einem Kopfschuss erlag, schob die deutsche Propaganda eine gefälschte Aussage unter, die ihn in Misskredit brachte. Die Propagandafälschung wurde ein halbes Jahr später als Vorwand für den Überfall der Deutschen auf die Niederlande benutzt.

Während die Propaganda den Venlo-Zwischenfall erfolgreich einsetzen konnte, hielt sich der nachrichtendienstliche Ertrag in Grenzen. Zwar verriet der britische Spymaster, der leichtsinnigerweise eine Liste seiner Agenten mit sich herumzutragen pflegte, fast das gesamte Netz seiner Organisation Z und schwächte damit auf Jahre die britische Aufklärung in Nazideutschland. Dennoch entsprach die deutsche Operation kaum dem Stand der Kunst der Geheimdienste. Erfahrenere Kollegen wie etwa die russischen Dienste, die Operationen langfristig über mehrere Jahrzehnte zu planen pflegten, hätten gegnerische Organisationen nicht gewarnt oder hochgehen lassen, sondern strategisch unterwandert, kontrolliert und ggf. von innen zersetzt. So jedoch gelang es den Deutschen im Zweiten Weltkrieg lediglich in zwei letztlich bedeutungslosen Fällen, den britischen Geheimdienst personell zu unterwandern.