Psychisch müde Gesellschaft von Ichlingen
Der "Médiator" der französischen Republik, amtlicher Empfänger zigtausender Beschwerdefälle, diagnostiziert eine wachsende Kluft zwischen Staat und Bürger
Die Franzosen haben den Gefallen am gesellschaftlichen Zusammenleben - "le goût du vivre ensemble" verloren. Was seit einigen Jahren auch hierzulande beklagt wird und manche Butter aufs Brot der Sozialwissenschaftler und Zukunftsforscher schmiert - so diskutierte die Spitze der CSU diesjährigen Kreuther Treffen den "Megatrend" "Das Ende der Ichlinge" - , stellt auch der "Médiator der République Francaise" in den Mittelpunkt seiner Analyse der gegenwärtigen französischen Verhältnisse.
Jean-Paul Delevoye, ist eine Art Ombudsmann, ein Mittler zwischen Behörden und Bevölkerung, institutionalisierter Adressat von Beschwerdebriefen. Die Sichtung der Fälle - 2010 insgesamt 76 286, eine Steigerung von 16% gegenüber dem Vorjahr - hätte ihn beunruhigt, so Delevoye, der heute seinen aktuellen Bericht vorstellt. Die Dossiers würden eine fragmentierte Gesellschaft zeigen, in der das Motto "Jeder für sich" die Lust am Zusammenleben ersetzt habe.
Aus Bürgern würden mehr und mehr Konsumenten. Delevoye konstatiert eine "große nervöse Spannung", die er in Zusammenhang mit dem Befund einer "psychischen Müdigkeit der Gesellschaft" bringt.
Was das Verhältnis zwischen den Bürgern und den staatlichen Behörden angeht, so zeige sich, dass sich beide in den überwiegenden Fällen verfehlen. Die Hälfte der Schreiben würden um rechtliche Aufklärung nachsuchen. Darin drücke sich der zeitgemäße Wunsch nach mehr Transparenz und Dialog aus, die der in Teilen rückständige staatliche Apparat nicht gewährleiste. Auch seien die Gesetze zu kompliziert geworden. Es gebe eine regelrechte Inflation von neuen gesetzlichen Regelungen, die einen "Übereifer des Staates" offenlege und die Kluft zwischen Staat und Bürgern noch verstärkten. Zumal die Beamten sich bei der Auslegung vor allem an formelle Vorgaben halten würden und das Menschliche hintanstellen.
Das Ausmaß an Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg, das aus den Schreiben ersichtlich werde, frappiert den Schiedsrichter, der vor einer wachsende Menge von Personen, die in sehr prekären Verhältnissen leben, warnt. Als Anschauungsbeispiel dafür gibt Delevoye eine Schätzung ab, derzufolge 15 Millionen Franzosen (Gesamtbevölkerung rund 65 Millionen) am Ende des Monats mit 50 bis 150 Euro auskommen müssten (eine allerdings etwas vage Zahl angesichts des großen Effekts, den er damit machen will, auch dürften viele Banken nicht nur in Frankreich fest damit rechnen, dass Millionen Kunden ihr Konto am Ende des Monats regelmäßig überziehen).