Radikale Kritik in Zeiten von Pegida

Der Rückzug eines Mitbegründers der kritischen Webseite NachDenkseiten wirft die Frage auf, wie radikal Kritik in Zeiten von Pegida sein kann und darf

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Ein längerer Streit bei der kritischen Webseite NachDenkSeiten hat nun zu personellen Konsequenzen geführt. Der Mitbegründer Wolfgang Lieb erklärte seinen Rückzug. Als Grund gab er ein Zerwürfnis mit seinem Mitstreiter Albrecht Müller an.

"Seit nahezu 12 Jahren habe ich viel Kraft und Leidenschaft in die NachDenkSeiten gesteckt. Es war nicht immer einfach, aber über gut 10 Jahre konnten Albrecht Müller und ich als Herausgeber fruchtbar zusammenarbeiten. Seit geraumer Zeit haben sich die NachDenkSeiten mit einem zunehmenden Anteil von Beiträgen meines Mitherausgebers nach und nach verändert und verengt: thematisch, in der Methode der Kritik und in der Art der Auseinandersetzung mit Menschen anderer Meinung“, begründet Lieb seinen Rückzug. Die politischen Differenzen werden von Lieb so benannt:

Ich halte das um sich greifende konfrontative Denken in der westlichen Politik und in den meisten deutschen Medien für falsch und höchst kritikwürdig, aber ich bin genauso davon überzeugt, dass man dieses Freund-Feind-Schema nicht mit umgekehrten pauschalen und einseitigen Schuldzuweisungen aufbrechen kann. Gesellschafts- und Ideologiekritik hat für mich das Ziel, schlechte bzw. ungerechte Zustände zum Besseren zu verändern. Diese Kritik darf aber nicht zu einem Generalverdacht gegen alles und jede/n verkommen. Der allgemeine Aufruf zu einem "Kampf" gegen "die Herrschenden" und gegen "die Medien" schürt eher Unbehagen oder gar Verbitterung und löst auf Dauer entweder politische Resignation aus oder lenkt sogar Wasser auf die Mühlen der "schrecklichen Vereinfacher".

Hier wird eindeutig ein Bezug zu Bewegungen wie den Montagsmahnwachen oder gar Pegida gezogen, die fundamentale Kritik an den Medien üben, was Lieb in den folgenden Absatz noch konkretisiert.

Mit einer pauschalen Aburteilung "der" Medien als "Kampfpresse", "als undemokratisch, als von Kampagnen, von Einseitigkeit, von Agitation und Dummheit geprägt" mögen sich vielleicht Menschen bestätigt fühlen, die ohnehin der Meinung sind, wir hätten es ganz allgemein mit einer "Lügenpresse" zu tun. Man unterstützt damit die Leserinnen und Leser jedoch nicht bei einer sachlich differenzierenden Aufklärung darüber, was an der Berichterstattung richtig ist oder nicht - also wo "gelogen" wird und wo nicht. Das aufzudecken, verlangt zwar mühselige Kleinarbeit, aber damit kann man nach meiner Auffassung Menschen besser zum Nachdenken veranlassen und eher Glaubwürdigkeit und Vertrauen gewinnen, als durch Pauschalurteile.

"NachDenkSeiten auch in Zukunft verlässliche Informationsquelle"

In einer Stellungnahme zu Liebs Rückzug schreiben die verbliebenen Redakteure der NachDenkSeiten und Mitglieder des Fördervereins zur "Initiative zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung e.V.“ Albrecht Müller, Jens Berger und Lars Bauer: "Die NachDenkseiten werden auch künftig eine zuverlässige Informationsquelle sein." Mit Verweis auf den Gründungskonsens der NachDenkseiten weisen sie Liebs Vorwurf der Zielveränderung zurück:

Die NachDenkSeiten wollen hinter die interessengebundenen Kampagnen der öffentlichen Meinungsbeeinflussung leuchten und systematisch betriebene Manipulationen aufdecken.

Der neoliberale Angriff auf das Gesundheitssystem oder die Rüster-Rürup-Täuschung, so lauten zwei der Themen, wegen derer die NachDenkSeiten von vielen Lesern geschätzt werden. Gegründet wurden sie 2003 vom langjährigen Sozialdemokraten Albrecht Müller und Wolfgang Lieb. Sie wollten damit gegen ein wirtschaftsliberales Dogma vorgehen, nach dem die Politik der Privatisierungen und der Schuldenbremse als scheinbares Naturgesetz medial dargestellt wird, das man genau so wenig kritisieren oder gar ändern kann wie ein Gewitter oder eine Sturmflut.

Das Gründungsdatum fiel in eine Zeit, als die letzten Illusionen über die rot-grüne Regierung verflogen waren. Spätestens der Abgang des Finanzministers Oskar Lafontaine und seiner Berater machte deutlich, dass das Kabinett Schröder/Fischer nicht nur Deutschland in den ersten Krieg nach dem 2. Weltkrieg führte, sondern auch auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik einen Kurs einschlug, der, was die Unterwürfigkeit gegenüber Konzerninteressen angeht, die Unionsparteien noch überbot. Die Agenda 2010 wurde vorbereitet, und ein Teil der Sozialdemokraten der Brandt-Ära erkannten ihre eigene Partei nicht mehr wieder.

Die Gründung der NachDenkSeiten war auch die erste organisatorische Manifestation der Entfremdung gestandener Sozialdemokraten von ihrer eigenen Partei, die sich mit der Agenda-Politik rasant verschärfte. Dass sich dann unter maßgeblicher Beteiligung von Lafontaine die Linkspartei gründete, kann durchaus als Nebeneffekt der beharrlichen Arbeit der NachDenkSeiten aufgefasst werden. Dabei haben sich die Gründer immer direkter parteipolitischer Aktivitäten enthalten und das neoliberale Dogma in allen Parteien und Medien heftig angegriffen.

2009 erklärte Albrecht Müller in einem Gespräch mit der FAZ, warum er sich noch einmal politisch und publizistisch engagiert:

Es gibt einen breiten Strom von herrschenden Meinungen; dagegen stehen unter anderem die NachDenkSeiten, die erfunden wurden, um eine Gegenöffentlichkeit zu kreieren. Es gibt ja durchaus viele mit guten Fakten begründete Gegenmeinungen zu den herrschenden Meinungen, aber diese Ströme laufen oft aneinander vorbei. Wie oft wurde beispielsweise die Behauptung wiederholt, 40 oder sogar 43 Prozent der Akademikerinnen blieben kinderlos? Aufgrund dieser Meinungsmache wurde das Elterngeld eingeführt. Dabei stand schon zwei Jahre vorher in der "Zeit", dass diese Zahl nicht stimmen kann. Es war also eine gemachte Meinung. Doch die Veröffentlichung der Gegenmeinung hatte keinerlei Effekt.

Die beharrliche Widerlegung der wirtschaftsliberalen Ideologie rief natürlich viele Kritiker auf den Plan.

Von "Don’t believe the hype" zur "Lügenpresse"

Schon in der Diktion, in der die NachDenkSeiten als "prorussischer Watchblog" bezeichnet werden, wird klar, dass es weniger um eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten der NachDenkSeiten, sondern um Diffamierung geht. Die politischen Koordinaten haben sich in den letzten Jahren verändert.

Anders als noch vor 10 Jahren profitiert von einer Kritik am wirtschaftsliberalen Dogma nicht nur die alte Sozialdemokratie, die teilweise in der Linkspartei Zuspruch gefunden hat. Mit der Mahnwachenbewegung und Pegida wurde erstmals offen eine rechte Bewegung zu einem gesellschaftlichen Faktor, die auch Elemente der Kritik übernommen hat, wie sie von Teilen der Linken formuliert wurden.

Das machen sich auch gesellschaftliche Eliten zunutze, die nun jegliche fundamentalere Kritik an den herrschenden Verhältnissen in die Nähe der rechten Bewegungen rücken. Das bringt emanzipative Bewegungen in ein Dilemma. Sollen sie sich nur in sogenannter konstruktiver Kritik üben, nur um nicht in die Nähe rechter Bewegungen zu geraten? Oder sollen sie nicht vielmehr ihre Kritik zuspitzen, um zu verhindern, dass sich rechte und regressive Bewegungen als Monopol auf die Kritik durchsetzen?

Ein gutes Beispiel ist die Kritik an den Medien, die in der linken Bewegung immer eine große Rolle spielte. "Don’t believe the hype" war ein beliebtes Motto linker Bewegungen. Über die Anti-Springer-Kampagne bis zu "Taz lügt" reichen die linke Kritik und Skepsis gegenüber der Presse. All das scheint vergessen, seit die Mahnwachen und Pegida mit ihrer Lügenpresse-Kampagne den Anschein erweckten, es gäbe nur eine rechte Medienkritik.

So erweist sich für die etablierten Medien und Thinkthanks Pegida als Geschenk und mittelbarer Unterstützer. Schließlich muss sich jetzt jeder, der eine radikale Kritik äußert, in die Nähe der Rechten rücken lassen, auch wenn klar erkennbar ist, dass die Kritik aus ganz anderen Beweggründen geleistet wird. So soll die linke Kritik zu einer zahnlosen konstruktiven Mitmachrhetorik werden, damit sich die Rechte umso mehr etablieren kann.

Mit der aber, das zeigte sich in der Geschichte immer wieder, können sich die etablierten Gewalten schon arrangieren. Denn die Rechte an der Macht war aller Rhetorik zum Trotz für den Kapitalismus nie eine Gefahr. Auch aktuell kommt es schon einer kollektiven Amnesie gleich zu vergessen, dass die AfD als eine Partei gegründet wurde, die mit ihren Wirtschaftsliberalismus die FDP übertrumpfen wollte.

Die NachDenkSeiten wollen allerdings auch in Zeiten von Pegida nicht den Part des konstruktiven Kritikers übernehmen. Gegenüber Telepolis erklärte Albrecht Müller, dass sich die Kritik seit der Gründung wenig verändert hat. Nur die politische Situation habe sich angesichts eines Krieges um die Ukraine und der weltweit eskalierenden Konflikten dramatisch verschärft.

Mit dieser Dramatik sei auch der härtere Ton in manchen seiner Beiträge zu erklären, so Müller. Die NachDenkSeiten würden auch weiterhin keine Kampagnen betreiben, sondern sich der Kritik an den bestehenden Verhältnissen widmen.Von ihm werde jeder kritische Beitrag in den Medien, sei es zur Wirtschaftspolitik oder zur Griechenlandfrage, besonders gewürdigt.