Reif für die Wohlstandsinsel

Auf in die gesunde Stadt. Familienleben 2

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Die liebe alte Dame aufzuheben war nicht leicht. Sie war nicht schwer, im Gegenteil, sie hatte ja kaum mehr Fleisch an den Knochen. Kein Wunder nach den vielen, jedes Mal mehrere Monate dauernden, Krankenhausaufenthalten, wo sie jedes Mal Angst haben musste, dass man ihr etwas amputieren würde. Zwei Finger und einen Zeh hatte man ihr schon entfernt. Unsere Nachbarin leidet an einer geheimnisvollen Krankheit, die im Haus flüsternd nur die "geheimnisvolle Krankheit" genannt wird. Eine seltene Erbkrankheit, erklärte die Hausmeisterin einmal; eine sehr seltene, unheilbare und furchtbar gemeine Krankheit, fügte Frau Matthies, die beste Freundin der kranken Frau Heesen im Haus, hinzu. Nachfragen erübrigten sich.

Frau Matthies passt auf Frau Heesen auf. Jedoch nicht an dem Tag, an dem wir die etwas kraftlosen Hilferufe von gegenüber endlich gehört haben. Zum Glück schon nach einer Viertelstunde, wie Frau Heesen später sagte. Unsere Kinder sind laut am Morgen, wenn wir zum Kindergarten aufbrechen. Ich holte den für solche Fälle bereitgehaltenen Wohnungsschlüssel von gegenüber.

Die Situation war ihr peinlich, sie lag im Flur, nur mit dem Nachthemd bekleidet und mit seltsam verdrehten Beinen neben dem Rollator. Sie konnte sich nicht mehr aufrichten. Um sie herum lagen Teile des Frühstücks, Pralinen, Zeitschriften und Zeitungen. Ihren Augen war die Verzweiflung über ihre hilflose Lage sehr deutlich anzusehen. Ich bemühte mich Optimismus und Ruhe auszustrahlen und so zu wirken, als würde ich nichts sehen außer ihre Augen.

Als ich das letzte Mal zu Besuch bei der alten Dame war, um ihr zu helfen, war mein Sohn mit in die Wohnung gekommen. Als er die dünne alte Frau im Bett sah, fing er an zu weinen. Obwohl sie sehr nett und mit betont warmer Stimme zu dem Vierjährigen gesprochen hatte und sich nicht wie sonst mit bitteren Wutausbrüchen über unzuverlässige Pfleger über die Situation hinweg zu retten versuchte. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie nur mehr Frau Matthies. Frau Matthies ist allerdings berufstätig und alkoholkrank. Zwar in einer unauffälligen Form, aber immerhin doch so, dass sie an zwei Tagen in der Woche komplett ausfällt. Da sie Katzen hat und auch die Katze von Frau Heesen betreut, kennt das ganze Haus diese Tage.

Das Hausmeisterehepaar hatte sich auf die Katzengeruchstage eingestellt und fuhr an den Wochenenden, wohin Frau Matthies die meisten ihrer Ausfalltage platzieren konnte, immer weg. Der Hausmeisterehemann litt an Depressionen, erklärte mir seine Frau einmal, nachdem ich den Hausmeister, den ich im Keller herumstehen sah, als Kunstfigur bezeichnet hatte - "Sie sehen ja aus wie eine Kunstfigur" - beeinflusst von einem vorgehenden Museumsbesuch. Ihr Mann hätte sich diese Bemerkung sehr zu Herzen genommen und sei über die Maßen gekränkt für Stunden verschwunden gewesen.

Er sei sehr darauf bedacht, als fleißig zu gelten. Trotz seiner Depressionen und den jüngst aufgetauchten quälenden Rückenschmerzen arbeite er bis zum Umfallen. Dennoch sei der Posten als Hausmeister wegen der vielen Krankheitstage nicht mehr sicher. So sei sie, obwohl sie selbst an großen Hüftgelenksschmerzen leide, dazu gezwungen, sich immer öfter als Aushilfe und Pflegerin beim Hausbesitzer, der gegenüber in einer Villa wohnt, zu engagieren. Der ehemalige Wirtschaftsprüfer kann seit einiger Zeit das Haus nicht mehr verlassen, nach den Ausführungen der Hausmeisterin redet er zudem immer mehr wirres Zeug und sieht beispielsweise unser Haus, das er von einem Fenster aus täglich beobachtet, von unzähligen schwarzen Käfern befallen.

"Das Haus ist krank", wiederholte die Hausmeistersgattin täglich, "gehen sie weg!" und die beinah erblindete Nachbarin von rechts unten lächelte dazu. Sie steht öfter vor den Briefkästen und passt Nachbarn ab, die ebenfalls nach der Post sehen. Ihr Augenlicht ist nicht mehr zu retten, die Erkrankung schreitet voran, ohne dass die Ärzte etwas dagegen machen konnten. Weswegen sie sich dann wichtige Briefe vorlesen lies. Zuvor waren schon Mahnungen eingetroffen. Auch ich musste ihr einmal eine Mahnung über mehrere Hundert Euro von der Telekom vorlesen, was sehr unangenehm war. Einige Tage später berichtete sie mir freudig, dass der Brief gar nicht an sie gerichtet war, der Postbote hatte sich getäuscht. Sie habe nicht mehr schlafen können, weil sie den Fehler in der Abrechnung nicht verstanden habe.

Als die Kinder anfingen, sich aus dem Kindergarten jede Krankheit, die ihnen dort angeboten wurde, mit nach Hause zu nehmen, stand der Entschluss dann doch fest: Wir ziehen um - in den gesunden Süden, wo meine Frau herkommt. Nicht ins noch kränker machende Berlin, sondern nach München, wo alles und jeder vor Fitness strotzt.

Wir ahnten jedoch nicht, dass die von Unannehmlichkeiten abgeschottete Wohlstandsinsel München tatsächlich keine bezahlbaren Familienwohnungen hat, wie es mittlerweile auch in großen Magazinen zu lesen ist: Dass sich bei jedem Angebot für billige "1500 Euro warm" mindestens 80 Menschen auf ebenso vielen Quadratmetern versammeln würden. Viele mit putzig angezogenen Kindern im Arm oder supersüßen Kinderfotos in den Händen. Eine lauernde Meute, die beim nächsten Termin zwar andere Gesichter aber ähnliche Verhaltensweisen hatte. Immer darauf bedacht, den Makler bei passender Gelegenheit auf etwaige gemeinsame Bekanntschaften oder gar Verwandte anzusprechen. Ihn münchnerisch diskret auf solide Vermögensverhältnisse, absolute Renovierungsbereitschaft und untadelige Lebensführung (natürlich Nichtraucher) hinzuweisen, bzw. der Selbstauskunft Addenda im Kuvert hinzuzufügen, das bestimmt noch mehr als Kinderfotos und ausführlichere Lebensläufe enthält.

Wir suchten beinahe ein Jahr. Es schien unmöglich, zumal wir anfangs aus der Ferne suchen ließen. Schließlich zogen wir zu den Schwiegereltern im Pfaffenwinkel, im Münchner Naherholungsumland. Wo wir allerdings nicht lange bleiben konnten, da meine Schwiegermutter überraschenderweise an Krebs erkrankte.

Siehe auch Familienleben 1: Driving the Nachbars crazy