Sodom und Camorra

Matteo Garriones Film "Gomorra", der am Sonntag im Wettbewerb von Cannes seine Premiere erlebte, zeigt ein durch und durch korruptes Leben.

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"Tutto aposto!" - "Alles klar!" Unbedingt. Alles klar und alles wie immer in Sizilien. Die Mafia nimmt ein Sonnenbad im Bräunungsstudio, die Mütter haben Angst um ihre Söhne, Laster bringen Giftmüll, der in den Bergen verscharrt wird, und Chinesen, die den Leuten das Leben noch schwerer machen. Und ab und zu liegt einer erschossen in einer Ecke der heruntergekommen Sozialbauten am Rand der Großstadt. Neuerdings trägt sogar Don Ciro, seit Jahrzehnten der Buchhalter im Viertel, eine kugelsichere Weste.

Matteo Garriones Film Gomorra, der am Sonntag im Wettbewerb von Cannes seine Premiere erlebte, ist - frei nach Roberto Savianos auch auf deutsch (bei Hanser) erschienenem Enthüllungsbuch - ein facettenreiches Portrait der mafiösen Strukturen des sizilianischen Alltags und der italienischen Gesellschaft. Ein durch und durch korruptes Leben, Schuld ohne Sühne, und ein intelligenter Film, der neben dem Erwartbaren - die Kleinen müssen büßen, die Großen lässt man laufen - doch manches Neue bietet und nicht zuletzt als Quasi-Dokumentation funktioniert. Ohne klare Hauptfiguren, erst recht ohne jene "Sympathieträger", ohne die deutsche Fernsehsender kein Drehbuch mehr finanzieren, entfaltet der Film ein soziales System und stellt dieses selbst ins Zentrum.

Gomorra von Matteo Garrione
Gomorra von Matteo Garrione

Ähnlich wie in Altmans "Short Cuts" und all jenen Kinowerken, die seitdem entstanden, kristallisieren sich aus diesem Figurennetzwerk dann doch gewisse Erzählstränge und Geschichten heraus: Etwa Signore Pascuale, ein Schneider, der schon zum wiederholten Mal gezwungen wird, den Druck - zu wenig Geld, zu viele Überstunden - an seine Arbeiter weiterzugeben, und sich schließlich entschließt, zu den Chinesen überzulaufen. Er sägt damit letztlich zwar an seinem eigenen Ast, aber kurzfristig hilft ihm der Deal. Und an mehr als an den nächsten Tag, das begreift der Zuschauer schnell, kann man an diesem Ort, in seiner Lage sowieso nicht denken.

Oder den Vater, der den braven Geschäftsmann mimt, aber dreckigen Abfall verscharrt, und dabei gnadenlos seine Mitarbeiter über die Klinge springen lässt - die andererseits, auch da ist Garrione gnadenlos ehrlich trotz aller Not auch ein ganzes Stück selbst schuld sind, an ihrem Schicksal. Als sein Sohn es dem Vater dann irgendwann doch vorhält, zeigt der Vater auf ein prächtiges Obstfeld: "Was siehst Du hier? Schulden! Du kannst ja Pizza backen." Oder zwei dumme 16-Jährige, die auf der Vespa kleine Raubzüge an Schwächeren begehen und wetteifern, wer Al Pacinos Tony Montana in "Scarface" am ähnlichsten sieht. Aber sie kennen ihre Grenzen nicht, und sind von Anfang an als Loser erkennbar.

"Gomorra" schildert eine Hobbessche Situation, ein Dasein in einem unerklärten Bürgerkrieg. Jeder ist dem anderen ein Wolf in dieser Welt. Am Ende von "Gomorra" erwischt es vorhersehbar auch noch die beiden Loser auf ihrer Vespa. Als sie am Boden liegen, resümiert der Alte, der ihre Ermordung kommandierte, wohlgefällig: "Es musste gemacht werden. Tutto aposto!" Dann kommt der Bagger.