Sport, das ehrlichste aller Massenspektakel!

Nicht der Muskel ist es, der siegt, sondern eine Idee des Menschen.

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"Die Muskeln machen nicht den Sport… nicht der Muskel ist es, der siegt. Es ist eine ganz bestimmte Idee des Menschen und der Welt, des Menschen in der Welt, die siegt. Die Idee ist, dass der Mensch sich voll und ganz durch seine Handlung definiert." Es sind höchst aktuelle Zeilen, gemünzt auf diese Tage und Wochen, in denen der Sport ganz dominiert, und sogar zum Schutzschild für Kriege zu taugen scheint. Aber diese Sätze sind 47 Jahre alt.

Sie stammen aus einem umfangreichen Drehbuch, das der französische Semiologe Roland Barthes ("Mythen des Alltags") 1961 zu dem knapp einstündigen essayistischen Dokumentarfilm "Der Sport und die Männer" ("Le Sport et les Hommes") des Francokanadier Hubert Aquin schrieb. Unter dem Titel "Was ist Sport?" ist das Script jetzt mit zwei weiteren, kürzeren Texten zum Zeichensystem Sport im Verlag Brinkmann & Bose erschienen. Der schön gemachte Band liefert dabei immer zum Text parallele Film-Stills - man kann den Film also quasi lesen. Eine Entdeckung!

Ziel des Projekts war es, Sport als soziales und poetisches Phänomen zu erfassen. Ein Unterfangen, das heute noch aktueller ist, als damals. Barthes beginnt mit dem Stierkampf - "wohl kaum ein Sport … und doch vielleicht das Modell und die Grenze jeden Sports" - und führt über Autorennen, Radsport, Eishockey zum Fußball, erweitert um Randbemerkungen zu vielen anderen Phänomenen. Barthes deutet den modernen Massensport als rituellen Akt in einer profanen nachmetaphysischen Welt, und als Fortsetzung des Kriegs, mehr aber noch des Kampfs mit anderen Mitteln. Und mit erhabeneren Zielen:

"Fast immer beim Sport ist dieser Kampf ein Wettkampf, kein Konflikt. Das bedeutet, dass der Mensch nicht den Menschen besiegen soll, sondern den Widerstand der Dinge."

Sport wird also als gemeinsamer Kampf der menschlichen Gegner gegen das Nicht-Menschliche verstanden, gegen Gott und die Welt. Es ist ein Kampf gegen die Natur (Berg, Wasser, Streckenlänge), gegen die Zeit (die abstrakte, wie die des Gegners), gegen die Schwerkraft.

Barthes verweist auf die theaterhafte Natur dieses Wettkampfes. Er sei ein Drama, das in geraffter Form "das ganze menschliche Abenteuer" enthalte. Und die Menschen in diesem Drama füllen feste Rollen aus:

"Die Sieger. Die Unglücksraben. Verzweiflung. Besonnenheit. …die großen Spieler sind Helden und keine Stars."

In Zeiten von Olympia-Begeisterung und Olympia-Kritik sind diese Bemerkungen der Erinnerung wert. Sie nehmen den Sport ernst, verwechseln die mediale Vermittlung nicht mit der Sache selbst, aber behandeln diesen Gegenstand auch nicht umgekehrt geringschätzig als "niederes Sujet" - der alte Fehler aller Bildungsphilister.

"In bestimmten Epochen, in bestimmten Gesellschaften hatte das Theater eine wichtige soziale Funktion: es hat die Stadt in einer gemeinsamen Erfahrung - dem Wissen um die eigenen Passionen - versammelt. Heute ist es der Sport, der auf seine Weise diese Funktion innehat. Nur, das die Stadt viel größer geworden ist: das ist keine Stadt mehr, das ist sogar oft ein Land, eigentlich die ganze Welt. Der Sport ist eine große moderne Institution - aber in die altüberlieferten Formen des Schauspiels geworfen. Warum? Warum den Sport lieben? Zunächst sollte man sich daran erinnern, dass alles, was dem Spieler widerfährt, dem Zuschauer wiederfährt. Aber im Theater ist der Zuschauer nur Voyeur, während er im Sport Akteur ist."

Darum ist Sport das ehrlichste aller Massenspektakel - und das, was uns am meisten über uns selbst verrät.

"Wer ist der Beste um den Widerstand der Dinge zu übersteigen, die Unbeweglichkeit der Natur? Wer ist der Beste, um die Welt zu bearbeiten? … Das ist es, was der Sport zu sagen hat. Manchmal möchte man ihn andere Dinge sagen lassen, aber dafür ist der Sport nicht gemacht."

Roland Barthes: "Was ist Sport?"; Brinkmann & Bose, Berlin