Stand By Priority - Warten auf die Wolke

36 Stunden in Madrid, von der Aschewolke gefangen. Berichte aus einer Welt, in der die Leute ihren schlechtesten Charaktereigenschaften wieder entdecken, und man selbst zum Sozialdarwinist wird.

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Mitten im Alltag gefangen neigt der Bürger der verwalteten Welt dazu, das Gewicht des Zufalls systematisch zu unterschätzen. Ist es dann doch einmal so weit, und der Zufall schlägt zu, muss man den Umgang mit ihm und seinem Geschöpf, dem Chaos, erst wieder vorsichtig lernen.

Auf dem Rückflug von Argentinien

Schon das ist ein Land, das einen, aus ganz anderen Gründen, Geduld ebenso wieder lehrt, wie in jeder Situation Hartnäckigkeit und Liebeswürdigkeit gleichermaßen zu bewahren. Man war gewarnt. Die BBC-Nachrichten im Hotel waren seit Tagen eindeutig, die Bilder erst recht. Trotzdem. Eigentlich wäre es schön gewesen, ein paar Tage länger in Buenos Aires zu bleiben. Aber die "Verpflichtungen", der sanfte Druck der Airline, die den ersten Teil des Fluges problemlos bewältigen kann, und dann auch die Überlegung, wenigstens schon mal in Madrid zu sein. Wieder in Europa. Von da aus wird schon was gehen, denkt man, da kann man dann notfalls eben mit dem Zug weiter. Oder dem Bus.

Der Weg nach Madrid führte über einen Mittelplatz auf den systematisch zu engen Sitzen eines Iberia-Airbus. Sind Spanier wirklich so klein? Sind sie nicht, dazu genügt ein Blick auf die Seite. Im Bordfernsehen - eine eigene Auswahlmöglichkeit gibt es nicht -, zeigt man "Avatar", und dann auch noch auf 2-D und zweimal hintereinander. An Schlaf ist nicht zu denken, beim Zeittotschlagen hilft ein Hörbuch.

Wenigsten schon mal in Madrid

Landung kurz vor 6 Uhr morgens Ortszeit. "Wenigstens schon mal in Madrid" also. Jedenfalls auf dem Flughafen. Die meisten Flüge scheinen laut Anzeige zu fliegen. "Was haben wir über Nacht verpasst?" Bis man begreift: Offen ist einfach alles, was noch nicht abgesagt wurde. Und das passiert immer nur kurzfristig. Immerhin: Nach Italien kann man wirklich fliegen und nach Amsterdam. Frankreich, England, Skandinavien und Deutschland sind zu.

Menschen, die auf dem Flughafen übernachtet haben, sieht man nicht. Aber vor dem Schalter für "customer service" der Iberia ist die Schlange schon um diese Zeit, zwischen 6 und 7 morgens, etwa 25 Meter lang, bis man den Schalter erreicht hat, vergehen etwa zwei Stunden. Die Maschine nach Berlin wurde inzwischen gecancelt. Anderes ist wieder offen. Auf der Maschine nach Amsterdam sind sogar noch Plätze frei. Soll man das machen, und von da aus mit dem Zug. Den müsste man aber selbst bezahlen. Man könnte auch nach Wien fliegen.

Am Ende bekomme ich eine "SBY-Buchung" für den Berlin-Flug um 15.50 Uhr. Das dauert noch sieben Stunden. "Nur" schießt einem durch den Kopf. Man lernt schnell. "You have very good chances with that flight" sagt die erstaunlich freundliche Iberia-Mitarbeiterin, die darauf verweist, am Vormittag gäbe es ein Treffen der europäischen Flugsicherung, man müsse abwarten auf was die sich einigen. SBY - das ist der Code für "Stand By Priority". Na also.

Menschen, die sich um vereinzelte Steckdosen scharen

Jetzt erst ein paar Stunden auf dem Flughafen. Viele Menschen, aber kaum Bewegung. Alle hängen herum, auch im Kleinen. Es gab ja mal Zeiten, da hielt man das Warten noch für pädagogisch wertvoll. Triebaufschub als Charakterschulung. Man kann bei McDonald's essen, sonst bleibt nicht viel, der größte und anspruchsvollere Teil der Flughafengastronomie befindet sich nämlich auch hier in der Zone, die nur mit Bordkarte betreten werden kann - und gehört entsprechend zu jenen, die ökonomisch zur Zeit harte Verluste hinnehmen müssen.

"Wer will nach Wien?" Iberia-Mitarbeiter rufen durch die Reihen der Wartenden. "Venedig?" Die Flüge, die starten müssen entsprechend aufgefüllt werden. Von Wien, hört man, gebe es dann Busshuttle nach München und Frankfurt. Eine absurde Situation: Einerseits die Tausende, die warten müssen, andererseits diese halbleeren Maschinen.

An Orten und in Momenten wie diesen entstehen neue unverhoffte Gemeinschaften und neue Formen, nach denen sich Menschen strukturieren: Wie Insekten um den Eingang zum Bau scharen sich Menschen etwa um jene nur sehr vereinzelt vorhandenen Steckdosen: Leere Akkus der Mobiltelefone und Computer werden wieder aufgeladen. Der unstillbare Durst nach Kommunikation nimmt eher noch zu. Wasserstandsmeldungen im Sekundentakt.

Man steht für eine kleine Info schon zwei Stunden an

Man sagt dann gern: Die Entdeckung der Langsamkeit. Entschleunigung, das ist es doch, was alle wollen. Bullshit! Wer hat etwas davon, außer den Hoteliers? In den Reise-Läden ist das Wasserregal leergekauft. Genauso wie der Alkohol. Cola auch. Noch gibt es Cola light und Fanta, auch Red Bull. Wasser nur bei McDonalds. Was auch völlig fehlt: ausländische Tageszeitungen. Leere Regale auch bei den Magazinecken zeigen an, was seit Tagen nicht geliefert wird. Die Leute entdecken gar nichts - außer ihren schlechtesten Charaktereigenschaften. Man wird wieder Sozialdarwinist.

Das Verhalten in den Schlangen ist interessant. Man steht für eine kleine Info schon zwei Stunden an. Wer bereits eine Bordkarte hatte, der hat, falls er doch nicht mitkommt, Anspruch auf eine Hotelnacht, die von der Fluggesellschaft bezahlt wird. Nur eine. Danach ist jeder auf sich gestellt. Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Andere ist ein Konkurrent um den vielleicht letzten Sitzplatz.

Keiner drängelt. Kinder jammern erstaunlich wenig, als ob sie spüren, dass dies hier ernst ist. Dann die Ansage: Busfahrten für deutsche Touristen würden an Schalter 073 bis 079 organisiert. Dafür müsste man aber den Platz in der Schlange aufgeben. Und 36 Stunden nach Berlin? Nein danke. Wirklich nicht. Eine Französin erzählt, sie müsse zurück, ihr Mann braucht Medikamente. Ein bisschen Galgenhumor gibt es unter den Reisenden. Aber nicht wirklich das Gefühl der Solidarität.

Man erkennt die Deutschen immer schon von weitem

Die Zeit und das Nichtstun in der Schlange verleiten natürlich zum Beobachten, und zu gewissen, natürlich oberflächlichen, Überlegungen: Man erkennt die Deutschen immer schon von weitem: Lautes Reden, Paare, auch junge, bei denen der Mann immer einen Schritt voraus ist, die entweder miteinander streiten oder die Verhältnisse beschimpfen. Oder gleich die ganze Welt. Oder Männer die allein sind und ganz laut telefonieren. Auch schimpfen. Wenn Frauen laut telefonieren und/oder schimpfen sind es Französinnen: "Putain! C'est pas vrai..." Für auffallend lauten Streit mit dem Flughafenpersonal sorgen dagegen vor allem die Briten. "Its outrageous" hört man immer wieder rufen. Auch für den Umgang mit derartigen Krisensituationen scheint es nationale oder wenigsten kulturelle Dispositionen zu geben. Lateinamerikaner haben Geduld gelernt. Spanier lassen sich die Laune nicht vermiesen genau wie Holländer. Italiener haben's eilig und sind genervt, aber lassen es nicht so sehr an anderen aus.

Ausgerechnet die Engländer. Spanien solle das Eingangstor Europas werden, hatte gestern erst der britische Premier Gordon Brown gedröhnt, der gerade im Wahlkampf ist und jetzt die Vulkanwolke für ein paar schnelle Punkte an der Popularitätsfront benutzt - wie einst Gerhard Schröder die "Jahrhundertflut". Und er hat drei Schiffe der britischen Marine losgeschickt, um Touristen einzusammeln. El Pais kommentiert am Dienstag hübsch boshaft: "Die britische Armada ist vor der Küste."

Gerade haben wir gelesen, dass in Großbritanien Einwanderer lernen müssen, Schlange zu stehen.

Morgen könnte sich "die Situation verbessern"

Gegen 15 Uhr ist klar: Es wird heute nichts mehr mit Flügen nach Deutschland. Trotzdem steht man weiter an, zum zweiten Mal in der Schlange zum "customer service", die über 50 Meter lang ist. Immerhin sitzt noch ein dritter Mitarbeiter am Schalter, und es macht Spaß sich auszurechnen, wie lang es wohl dauern wird, zu ihm vorzustoßen. Drei Stunden, mit dem Tip liege ich dann ganz gut.

Dort, kurz vor 18 Uhr, bekommt man zunächst nur die vage Auskunft, morgen könnte sich "die Situation verbessern", und dann aber - ungelogen zwischen pöbelnden Engländern, die die Iberia-Mitarbeiter bedrohen, sich ihre Namen geben lassen, und den Platz erst frei machen, als Sicherheitsleute gerufen werden - eine Buchung nach Berlin, für den Flug am Mittwochabend. Kein Standby mehr, das heißt: Wenn die Maschine fliegt, kommt man mit, wenn man viel Glück hat, schon früher. Man bekommt auch einen Hotelgutschein, und die Auskunft, man müsse dazu einen Bus nehmen, der einen in das Hotel bringe. Also weiter warten, Verfügungsmasse sein.

Wahrscheinlich muss man dann am Morgen auch um spätestens 8 Uhr einen Bus zum Flughafen nehmen, und dort weiter warten. Das mache ich nicht, sondern fahre nach Madrid in die Stadt, und wohne bei Sara, einer Freundin, die auch Journalistin ist und bei "El Publico" arbeitet. Am Abend gibt es Fußball: Barcelona gegen Inter Mailand, die falschen verlieren, aber es gibt ja noch ein Rückspiel. Und am Morgen den Prado.

Sara erinnerte im Gespräch an den Film "Casablanca". Wo alle in Marokko festsitzen und auf ihre Transitvisa warten, zwischen zahllosen Gerüchten. Ein bisschen war es so auf dem Flughafen von Madrid.

Der Himmel über Madrid ist blau. Noch blauer als bei Goya. Die Reisenden warten weiter auf die Wolke, darauf, dass sie verschwindet. Wartende sind jedenfalls auch keine besseren Menschen.