Ungarn: "Kalkulierte Narrenfreiheit" für Rechtsextremisten

Ein Abgeordneter der Jobbik-Partei forderte im Parlament die Erfassung jüdischer Mitglieder, weil sie ein "nationales Sicherheitsrisiko" darstellen. Von offiziellen Sanktionen ist bislang nicht die Rede

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Es kamen 300, um gegen Jobbik und Gyöngyösi zu demonstrieren. Als der ungarische Premier Orban zum Nationalfeiertag von einem "Kampf gegen das Fremde" sprach, hatte er 150.000 Anhänger mobilisiert. Der plakative Zahlenvergleich ist freilich unstatthaft, zumal auch die Opposition am Nationalfeiertag Ende Oktober mindestens 50.000 Anhänger auf die Straße brachte. Und dennoch: die Gegenüberstellung führt vor Augen, wie es um die politischen Verhältnisse in Ungarn steht.

Nämlich so, dass ein Abgeordneter der rechtsradikalen Partei Jobbik, Marton Gyöngyösi, im Parlament eine Liste von jüdischen Abgeordneten fordern kann - mit der Begründung, dass sie "nationales Sicherheitsrisiko" darstellen - , ohne dass dies zu deutlich sichtbaren Konsequenzen führt.

"Von offiziellen Sanktionen gegen den Abgeordneten Gyöngyösi wird derzeit nichts berichtet, nicht einmal eine Verwarnung des Parlamentspräsidiums hat ihn erreicht, denn dafür war der Vorsitzführende zuständig, zur Redezeit Gyöngyösis war das ein Parteikollege", empört sich die deutschsprachige Zeitung Pester Lloyd.

Antisemitische und rassistische Äußerungen von Jobbik-Abgeordneten seien an der Tagesordnung, im Parlament und auf der Straße; Hasspredigen gegen "Juden", "Zigeuner", "Kommunisten" und "Homosexuelle" sollen "bisher immer straflos" geblieben sein, wird der gestrige Ausfall des Jobbik-Abgeordneten kommentiert. Die Regierungspartei Fidesz kalkuliere mit der Anhängerschaft von Jobbik, weshalb das Motiv fehle, sich deutlich abzugrenzen.

Zwar ließ die ungarische Regierung verlauten, dass man die Äußerungen Gyöngyösis "scharf verurteilt". Weil damit aber keine konkreten Maßnahmen verbunden sind, wird dies von Kritikern als reine Formsache interpretiert. Eine Standardfloskel, so Pester Lloyd, wo man eine gewisse Themenüberschneidung zwischen der Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) und Jobbik konstatiert und dazu "eine kalkulierte Narrenfreiheit" für Jobbik in ihrer "Rolle als Ventil und böser Bube". Ein riskantes Spiel, warnt die Zeitung, denn "die Gyöngyösis sind schon überall, sie sitzen in Ämtern, bei der Polizei, in Redaktionsstuben auf Bürgermeistersesseln und daher natürlich auch im Parlament".

Von Gyöngyösi werden Aussagen zitiert, die ein deutliches rechtsextremistisches, antisemitisches Profil zeigen. In Umfragen liegt Jobbik zwischen 20 und 25 Prozent. Zur Wählerschaft gehören laut Politik-Forschern "in erster Linie nicht die Armen und schlecht Ausgebildeten". Der durchschnittliche Jobbik-Wähler würde mehr verdienen und gebildeter sein als Anhänger der Regierungspartei Fidesz. "15 Prozent haben studiert, weitere 41 Prozent haben Abitur", so ein Analyst des Budapester Forschungsinstitut Political Capital gegenüber der Zeit.

Kürzlich entschied der ungarische Verfassungsgerichtshof, dass Obdachlosigkeit nicht strafbar ist, nachdem Fidesz mit Parlamentsmehrheit ein Gesetz verabschiedet hatte, das die "Nutzung öffentlichen Raums für Wohnzwecke" unter Strafe stellte.

Am Montag verabschiedete das Parlament ein neues Wahlgesetz, das Fidesz große Vorteile für die nächste Wahl einräumt.